Treff Sozialarbeit beleuchtet Hintergründe von Gewalt gegen Frauen – Hilfsangebote in Stuttgart vorgestellt
Stuttgart. Beziehungsdrama, Familientragödie, unbegreifliches Verbrechen – so lauten die Schlagzeilen, wenn ein Mann seine Partnerin nach der Trennung tötet. Für Julia Cruschwitz führen diese Begriffe in die Irre: „Solche Morde sind Femizide, es sind gezielte Tötungen einer Frau aufgrund ihres Geschlechts.“ Die Journalistin hat ein Buch mit dem Titel „Femizide – Frauenmorde in Deutschland“ geschrieben und beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) darüber referiert. Weitere Expertinnen haben über Hilfsangebote für Mädchen, denen Gewalt im Namen der Familienehre droht, und die Arbeit von Frauenhäusern berichtet.
Femizide sind kein seltenes Verbrechen, im Gegenteil: Laut Kriminalstatistik wurden 2020 in Deutschland 139 Frauen von ihren Männern oder Ex-Partnern getötet. Dazu kommen 200 versuchte Tötungsdelikte, die Dunkelziffer liegt weit höher. In einem Fünftel aller Fälle hat der Mann – aus Rache oder um die Frau zu bestrafen – auch die Kinder umgebracht.
Femizide haben immer eine Vorgeschichte
Es sind patriarchale Strukturen, die als Muster hinter diesen Morden stehen, erklärte Julia Cruschwitz. Die Frau werde als Besitz angesehen, über den der Mann verfügen kann. Auch vor Gericht seien diese patriarchalen Denkweisen vorhanden. Etwa dann, wenn zu Gunsten des Angeklagten angeführt werde, der Mann habe „nur“ die Frau, aber nicht die Kinder geschlagen. Oder wenn die vorangegangene Trennung als strafmildernd angeführt werde.
„Femizide haben immer eine Vorgeschichte“, sagte Julia Cruschwitz und berichtete von Celine (Name geändert). Sie hat die Geschichte der 29-Jährigen in ihrem Buch festgehalten. Celine wurde über viele Jahre von ihrem Partner erst eingesperrt, dann geschlagen und bedroht. „Wenn du mir die Kinder wegnimmst, werde ich dich töten“, sagte er, nachdem sie ausgezogen war.
Prävention kann Fallzahlen senken
Sie hat ihn angezeigt, was ohne Folgen geblieben ist. Er bedrohte sie weiter, hatte das Umgangsrecht für die gemeinsamen Kinder. Als diese bei ihm übernachtet haben, hat er Celine angerufen, sie solle ein Kuscheltier vorbeibringen. Als sie kam, versuchte er, sie mit einem Stein zu erschlagen. Die Kinder waren da schon tot: Er hatte sie mit Bauschaum erstickt. Celine hat überlebt. Der Täter war schon einmal wegen einer Gewalttat im Gefängnis und stand als Dealer unter polizeilicher Beobachtung. Das Familiengericht, das ihm das Umgangsrecht gewährt hatte, wusste davon allerdings nichts.
Cruschwitz plädierte dafür, Täter stärker in den Fokus zu nehmen, das Thema Stalking nicht zu bagatellisieren. Sie verwies auf Spanien: Dort seien in den vergangenen Jahren hohe Summen in die Prävention von Femiziden geflossen, die Fallzahlen seien daraufhin gesunken.
Hilfen für junge Frauen
Junge Migrantinnen vor Gewalt zu schützen, die ihnen von der Familie „im Namen der Ehre“ droht, ist das Ziel von YASEMIN. Aisha Kartal (Name geändert) hat beim Treff Sozialarbeit vor den rund 140 über Zoom zugeschalteten Teilnehmenden dieses Präventionsangebot der eva vorgestellt. Bei Informationsveranstaltungen in Schulen und Berufsschulen und auf Instagram sprechen Sozialarbeiterinnen Mädchen an und informieren sie über ihre Rechte. „So erreichen wir junge Frauen, die meist sehr fremdbestimmt und in einem engen Korsett leben“, sagte die Leiterin der Hilfen für junge Migrantinnen.
Junge Frauen zwischen 14 und 27 Jahren, die akut von Zwangsverheiratung und Gewalt bedroht sind, kommen beim Projekt NADIA der eva bis zu zwölf Wochen an einem sicheren Ort unter und werden unterstützt, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Vier Plätze dieses stationären betreuten Wohnens werden vom Jugendamt nach §34 SGB VIII finanziert. Zwei weitere Notaufnahmeplätze stehen volljährigen Frauen bis zum Alter von 27 Jahren zur Verfügung. Die finanziert pauschal das baden-württembergische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration.
Im Wohnprojekt ROSA der eva können Mädchen ab 16 Jahren, die den Bruch mit ihrer Familie als letzten Ausweg sehen, anonym leben – zunächst betreut in einer Gruppe, später selbstständig. Zwischen 70 und 80 Anfragen gibt es hierfür pro Jahr, im vergangenen Corona-Jahr hat sich diese Zahl halbiert.
Wenn die Frau fliehen muss, müssen die Kinder manchmal Kita oder Schule wechseln
Die Frauen, die vor häuslicher Gewalt in einem der beiden Frauenhäuser in Stuttgart Schutz suchen, seien oft von ambivalenten Gefühlen gezeichnet, berichtete Iris Enchelmaier vom Verein „Frauen helfen Frauen“: Weil sie ihren Kindern den Vater nicht wegnehmen wollten, weil sie sich dem gewalttätigen Partner trotz allem noch verbunden fühlten. Bei den drei Beratungsstellen in Stuttgart (FrauenFanal, BIF und Fraueninterventionsstelle) erfahren Frauen, die von ihrem Partner, vom Vater oder vom Bruder geschlagen werden, welche Möglichkeiten der Existenzsicherung es für sie gibt.
„Viele Frauen, die im Frauenhaus aufgenommen werden, sind komplett von ihrem Partner abhängig, ohne eigenes Einkommen und sehr unselbständig“, berichtete Karolin Tenbuß, die als Sozialarbeiterin im Frauenhaus der Stadt Stuttgart arbeitet. Je gefährdeter die Frauen sind, desto wahrscheinlich ist es, dass sie in einem Frauenhaus landen, welches entfernt vom ursprünglichen Wohnort ist. Die Kinder müssen dann Schule oder Kita wechseln.
Zwischen 10 und 30 Prozent aller Familien sind von häuslicher Gewalt betroffen, so eine Schätzung des Bundesfamilienministeriums. Umso wichtiger sei es, so Iris Enchelmaier, die Kinder bei der Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen zu unterstützen. Sonst sei die Gefahr groß, dass die erfahrenen Muster weiterlebten. Dann erscheine selbstverständlich, dass Gewalt in einer Beziehung dazugehört und dass Konflikte mit der Faust gelöst werden. (ds)