Mit einem Leserbrief im Jahr 1830 fängt alles an: Der noch nicht fünfundzwanzigjährige Esslinger Vikar Christoph Ulrich Hahn „erlaubt sich, seinen verehrten Mitlesern der Evangelischen Kirchenzeitung die Errichtung einer Gesellschaft zur Ausbreitung kleiner religiöser Schriften in Vorschlag zu bringen“. Er trifft den Nerv der Zeit. Esslinger Bürger und Pfarrer nehmen die Initiative auf. Die Verbreitung evangelischer Erbauungsliteratur wird zentrale Aufgabe der jungen Gesellschaft, die bald auch das Wochenblatt „Altes und Neues aus dem Reiche Gottes“ herausgibt, eine Leihbibliothek betreibt und sich um die Weitergabe von Spenden an Bedürftige kümmert.
1833 sind bereits 39.000 Traktate verteilt, zwanzig Jahre später über zwei Millionen. 1835 übersiedelt die Gesellschaft nach Stuttgart. Das Geschäft der Schriftenverteilung wird neu organisiert. 1846 wird ein erster so genannter Kolporteur angestellt, der über Land reist und Bibeln und evangelisches Schrifttum vertreibt.
Besuchsdienst bei den Armen
1848 gibt Johann Hinrich Wichern auf dem Wittenberger Kirchentag den Anstoß zur Inneren Mission. Im Jahr darauf ist er in Stuttgart zu Gast. Seine Anregungen fallen auf fruchtbaren Boden: Die Evangelische Gesellschaft richtet einen Besuchsdienst bei den Armen der Stadt ein. Die Stadtmission entsteht. Stadtmissionare kümmern sich um Strafgefangene und die stetig wachsende Zahl der Industriearbeiterinnen und -arbeiter. Sie führen seelsorgerliche Gespräche und leisten praktische Unterstützung. Treibende Kraft dieser Jahre ist der Apotheker Gottlieb Scholl, Vorstand seit 1849.
1858 erwirbt die Gesellschaft ihre erste Immobilie in der Färberstraße. Sie errichtet einen Saal für Vorträge und Erbauungsveranstaltungen. 1874 gründet sie eine Buchhandlung samt Verlag, beide eine Haupteinnahmequelle der nächsten Jahrzehnte. Im Jubiläumsjahr 1880 stehen elf Kolporteure, drei Stadtmissionare, ein Sekretär, ein Geschäftsführer und Kassierer und drei Büroangestellte in Diensten der eva.
1903 kauft die Gesellschaft ein Grundstück in der Büchsenstraße 36. Hier baut sie ihr erstes Wohnheim für Mädchen, das Charlottenheim. 1905 erscheint erstmals das "Evangelische Gemeindeblatt für Stuttgart", heute das "Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg".
Hilfen für Prostituierte
Die Not der Kriegsjahre 1914 bis 1918 stellt die Stadtmission vor große Herausforderungen: Die hungernde Bevölkerung wird mit Naturalien versorgt. Ab 1926 betreibt die Gesellschaft den Margaretenhort als Übergangswohnheim für Mädchen, drei Jahre später kommt die Burg Reichenberg als Auffangstelle für Prostituierte hinzu. Ab 1932 ist die Mitternachtsmission Anlaufpunkt im Rotlichtviertel.
Bekenntnispredigten im Kirchenkampf
Das hundertjährige Jubiläum 1930 fällt in eine unruhige Zeit. Arbeitslosigkeit stürzt viele Familien ins Elend. Den Regierungsantritt der Nationalsozialisten registriert man in der Evangelischen Gesellschaft zunächst hoffnungsvoll, weil die Arbeitslosigkeit überraschend schnell sinkt. Doch bereits im Sommer 1933 zeigt die neue Regierung ihr wahres Gesicht: Besuche in den Gefängnissen werden untersagt, die Kolporteure erhalten keine Gewerbebescheinigungen mehr, die Stadtmission wird als "reichsfeindliche Organisation" eingestuft. Während des Kirchenkampfes veröffentlicht der Verlag die Bekenntnispredigten von Bischof Theophil Wurm. 1939 wird die Spenderzeitschrift schatten und licht verboten. Auch der Vertrieb des Gemeindeblattes wird zunehmend behindert, 1941 muss es sein Erscheinen einstellen. Im Bombenkrieg verliert die Gesellschaft alle Heime und Häuser.
Das Kriegsende bringt eine Vielzahl neuer Aufgaben. Die eva betreibt die Hilfsstelle für Rasseverfolgte. Bei der Stadtmission suchen Obdachlose, Durchreisende, Flüchtlinge und Heimkehrer Rat und Hilfe. Luftschutzbunker werden zu Männerwohnheimen umfunktioniert. Bald beginnt der Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Heime. Imposantestes Beispiel ist das Männerwohnheim in Stuttgart-Rot (heute Immanuel-Grözinger-Haus), das 1966 eröffnet wird und mit 154 Zimmern auf dreizehn Stockwerken die Bunkerunterkünfte überflüssig macht.
Vielzahl innovativer Projekte
Die Entwicklung der nächsten Jahre ist rasant. „Wir können nicht bestimmen, was wir tun wollen. Die Arbeit wird uns vorgelegt“, schreibt der Gesamtleiter im Jahresbericht 1956/57. Doch nicht nur die Aufgaben nehmen zu. Auch konzeptionell werden neue Wege beschritten. Pfarrer Otto Kehr, der Gesamtleiter von 1959 bis 1981, notiert rückblickend: „Mit dem Ende der 50er und dem Beginn der 60er Jahre setzte ein tiefer Wandel der Gestaltung von Sozialhilfeund Diakonie ein.“ Die Betreuungsdiakonie der drei S – Seife, Suppe, Seele – wird in eine Befähigungsdiakonie überführt, die sich am Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe orientiert. Beratung und Begleitung rücken in den Mittelpunkt diakonischer Arbeit. Die eva wagt eine Vielzahl innovativer Projekte.
1956 nimmt der Ausländerdienst seine Arbeit auf (heute Internationales Beratungszentrum), ab 2. Mai 1960 bietet die Telefonseelsorge Beistand. 1970 gründet die eva die bundesweit erste Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit, 1975 folgt die bundesweit erste Jugendtagesgruppe im Flattichhaus. 1977 eröffnet die eva die erste Schwangerenberatung der Diakonie in Württemberg, 1978 gründet sie gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Württemberg den Arbeitshilfeträger Neue Arbeit. 1981 starten die Dienste für seelische Gesundheit, 1986 entsteht die bundesweit erste Aidsberatung in diakonischer Trägerschaft, 1987 die Zentrale Schuldnerberatung (gemeinsam mit Stadt und Caritas), 1989 die Alzheimerberatung, 1994 der Schlupfwinkel für Straßenkinder. Ab 1998 werden im Flattichhaus in Stuttgart-Nord die Sozialräumlichen Erziehungshilfen erprobt, die heute als Hilfen zur Erziehung Standard in der Stuttgarter Jugendhilfe sind. 1999 startet die eva das Bundesmodellprojekt Vierte Lebensphase.
2001 wird das Gradmann Haus eröffnet, das bundesweit erste Zentrum für Demenzerkrankte. Zwischen 1998 und 2003 nehmen verschiedene Projekte für junge Menschen ohne Arbeit ihre Beratungstätigkeit auf. 2006 wird die Trägerschaft des Rehabilitationszentrums Rudolf-Sophien-Stift samt Klinik übernommen. Ab dem gleichen Jahr wird mit proE den Schulen ein sozialarbeiterisches Angebot gemacht, mit dem die Zukunftsperspektiven der Schülerinnen und Schüler verbessert werden sollen. Ebenso wird Scout am Löwentor eröffnet, wo ältere Kinder und Jugendliche, die zuvor durch alle Netze gefallen sind, intensiv betreut werden.
In Buchen wird 2007 das Demenzzentrum Helmuth-Galda-Haus eröffnet. Seit 2007 unterstützt die Beratungsstelle Yasemin junge Frauen, die von Zwangsheirat und sogenannter Gewalt im Namen der Ehre bedroht sind. Seit Januar 2010 sind die Evangelischen Jugendheime Heidenheim neue Tochtergesellschaft und werden als eva Heidenheim weitergeführt. Mit der eva Kinderbetreuung eva:lino wird Ende 2011 eine weitere Tochter gegründet. Sie betreibt an mehreren Standorten in Stuttgart Kindertagesstätten, die eine flexible, integrative und betriebsnahe Ganztagesbetreuung bieten. 2015 wird das Familienzentrum in Weinstadt eröffnet, in dem Menschen weitergebildet, beraten und begleitet werden. Seit dem gleichen Jahr geht die Mobile Kindersozialarbeit auf Kinder zu, die im Stadtteil auffällig werden. 2020 wird das neue Flattichhaus fertiggestellt, das nun in zwei Neubauten stationäre Plätze für Kinder, Jugendliche und Familien bietet.
Heute besteht die Evangelische Gesellschaft aus etwa 150 Diensten mit über 1.300 hauptamtlichen und fast 1.100 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.