10 Jahre Atrium am Römerkastell der eva – Mitarbeitende unterstützen jedes Jahr fünfzig bis sechzig Familien
Stuttgart. Kurz nachdem sie vor zehn Jahren nach Stuttgart kam, hatte Melanie Yilmaz (Name geändert) erste Kontakte zum Stuttgarter Jugendamt. Es gab Anzeichen, dass sie sich nicht ausreichend um ihren dreijährigen Sohn kümmern konnte. Die Mutter hatte große Angst, dass sie ihren Sohn nicht bei sich behalten dürfte. In Stuttgart gibt es allerdings seit einigen Jahren sozialräumliche ambulante Hilfen zur Erziehung, die Familien dabei unterstützen, ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Diese Hilfen sind individuell auf die Familien zugeschnitten, sie sind wohnortnah im jeweiligen Stadtteil, in dem die Familien leben. Gerade hatte das Atrium am Römerkastell der Evangelischen Gesellschaft (eva) im Hallschlag seine Türen geöffnet. Bald wurde Melanie Yilmaz vom Atrium unterstützt. So wie fünfzig bis sechzig weitere Familien und alleinerziehende Elternteile pro Jahr seit 2007.
Familien in Deutschland haben ein Recht darauf, bei ihrer Erziehung unterstützt zu werden. Das können die Eltern beim Jugendamt beantragen: wenn sie sich überfordert fühlen, in Krisensituationen oder in schwierigen Phasen innerhalb der Familie. Doch wie sieht so eine Hilfe konkret aus? Sie verläuft nicht immer geradlinig, die Familien erleben Höhen und Tiefen. Davon kann Melanie Yilmaz heute lange erzählen – gemeinsam mit Claudia Beilke, der Mitarbeiterin des Atriums, die sie bis 2016 unterstützt hat.
Zum Beispiel beim Einteilen des Geldes: Melanie Yilmaz hatte oft zu wenig davon, machte Schulden. Ihre gesamten Einkünfte kamen auf ihren eigenen Wunsch auf ein Eigengeldkonto der eva. Die junge Mutter bekam ihr Geld wöchentlich – und zahlte davon in den nächsten fünf Jahren sogar komplett ihre Schulden zurück.
Samuel (Namen der Kinder geändert) saß noch im Kinderwagen und trug Windeln, als er vier Jahre alt war. Das lag nicht an ihm – seine Mutter hatte Schwierigkeiten damit, dass ihr Kind älter und selbstständiger wurde. In Beratungsgesprächen arbeiteten Claudia Beilke und Melanie Yilmaz daran, dass der Junge selbständiger werden durfte. Und auch, dass er weniger Angst vor seiner Mutter haben musste. Denn unter Stress war Melanie Yilmaz schnell emotional überfordert. In diesen Situationen schrie sie Samuel an. Der Junge versteckte sich dann, z. B. unter dem Bett.
Sich vorzustellen, wie es dem eigenen Kind geht, was es denkt, fällt Eltern schwer, die selbst traumatisierende Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht haben. Deshalb hat Claudia Beilke der Mutter eine Video Interventionstherapie angeboten. Dabei werden Handlungen zwischen Eltern und ihren Kindern auf Video aufgenommen. Durch die Aufnahme konnte Melanie Yilmaz ihr Verhalten mit emotionalem Abstand zu der jeweiligen Situation anschauen. So ist es ihr gelungen, ihr eigenes Verhalten zu verstehen und erste Veränderungen herbeizuführen. Sie hat gelernt, zwischen sich und ihren eigenen Themen und dem Verhalten von Samuel zu unterscheiden.
Nicht immer ging es aufwärts: 2010 trennte sich Melanie Yilmaz vom Vater ihrer inzwischen geborenen Tochter Jasmin. In der folgenden Zeit baute sie sich in einem Computerspiel eine heile Parallelwelt auf, in der sie mehr und mehr lebte. Ihr Tag- und Nachtrhythmus verschob sich und sie konnte ihre Kinder nicht mehr ausreichend versorgen. Schließlich reichte die ambulante Hilfe nicht mehr aus, um die Situation für die Kinder zu verbessern: Samuel wurde in einer Wohngruppe im Stadtteil untergebracht, Jasmin lebte jetzt während der Woche bei ihrem Vater.
Die Kinder litten darunter, nicht mehr mit ihrer Mutter zusammenzuleben. Das sah auch die Mutter – und entschied sich, in die SIT-Wohngruppe im Flattichhaus der eva zu ziehen. Hier leben Eltern zusammen mit ihren Kindern und bleiben dabei in der Verantwortung für ihre Kinder. In Elternrunden bekam die Mutter neue Ideen und Tipps von den anderen Eltern. Mit dieser täglichen Alltagsunterstützung gelang es Melanie Yilmaz, wieder die Erziehungsverantwortung für ihre Kinder wahrzunehmen.
Ein dreiviertel Jahr später konnte sie mit ihren Kindern zurück in ihre Wohnung ziehen. Hier wurde sie nach drei Monaten wieder durch Claudia Beilke vom Atrium unterstützt. Das Angebot, sich mit anderen Eltern gegenseitig zu beraten, hat sie dann auch im Atrium wahrgenommen. Die Hilfe für Melanie Yilmaz und ihre Tochter konnte im Dezember 2016 beendet werden. Falls sie künftig Hilfe braucht, will sie wieder auf das Atrium zukommen.
Melanie Yilmaz hat ihre Ängste davor, dass ihre Kinder ihr weggenommen werden könnten, verloren. Sie ist auch schon seit Jahren kein Fall mehr für den Kinderschutz. Stattdessen freut sie sich, zum Atrium zu kommen und dort den sozialen Fachkräften und anderen Eltern zu begegnen. Und noch etwas hat sich geändert: sie hat gelernt, sich Ziele zu setzen.