Fachtag „Zwangsverheiratung wirksam bekämpfen“ zeigt die Situation in Baden-Württemberg und die internationale Perspektive
Stuttgart. Amina wurde als Kind und Jugendliche geschlagen und gegängelt, mit 20 Jahren dann zwangsverheiratet. Einige Zeit später ist ihr die Flucht gelungen. Inzwischen lebt sie in der anonymen Wohngruppe ROSA der Evangelischen Gesellschaft (eva). Um Schicksale wie das ihre und um mögliche Hilfen geht es bei einem Fachtag am 21. Juli 2022, den die eva und das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg mit mehreren Partnern veranstalten. Dieser dient auch dazu, Fachleute aus ganz verschiedenen Berufsgruppen zu vernetzen, die mit dem Thema Zwangsverheiratung zu tun haben. Dadurch sollen sie in die Lage versetzt werden, Notlagen zu erkennen. Und sie sollen Strategien erhalten, wie sie jungen Frauen rasch und kompetent helfen können. Bis zu 100 Interessierte können an dem Fachtag teilnehmen.
Starker ökonomischer Druck führt zu mehr Zwangsverheiratungen
Ein Schwerpunkt des Fachtags 2022 ist die internationale Perspektive. Akteurinnen und Akteure aus der Schweiz, Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien bieten Einblicke in ihre Projekte und Maßnahmen. Vorab aufgezeichnete Interviews werden per Video vorgestellt: Expertinnen und Experten des belgischen Instituts für die Gleichstellung von Frauen und Männern, der britischen Forced Mariage Unit, des niederländischen Zentrums für Zwangsverheiratung und Verschleppung sowie des österreichischen Vereins „Orientexpress“ berichten über ihre Arbeit. In Belgien würden Standesbeamte beispielsweise intensiv geschult, um zu erkennen, ob es einen Verdacht auf eine Zwangsverheiratung gebe und die Trauung dann nicht vorzunehmen, berichtete vor dem Fachtag Prof. Dr. Birgit Locher-Finke, Leiterin der Abteilung „Integration, Europa“ des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg. Sie wies darauf hin, dass durch ökonomischen Druck die Zahl von Zwangsverheiratungen ansteigen würden: Wer wenig zu essen habe, verheirate seine Tochter mit einem oft älteren Mann – in der Hoffnung, dass es ihr dort besser geht: „Wir haben konkrete Hinweise darauf, dass in diesen Zeiten Zwangsverheiratungen zunehmen, zum Beispiel in Äthiopien.“
Zahl der Anfragen bei Beratungsstelle YASEMIN ist trotz Kontakteinschränkungen durch Corona gestiegen
Ein zweiter Schwerpunkt des Fachtages ist eine Bestandsaufnahme der Situation in Baden-Württemberg. Für Amina war die anonyme Wohngruppe ROSA in diesem Bundesland die Rettung aus ihrer Zwangsehe. Sie stammt aus einem anderen Bundesland; eine Beratungsstelle sowie das Jugendamt dort haben sie dabei unterstützt, aus ihrer Familie zu fliehen. Mit 20 war sie von ihrer Familie dazu gezwungen worden, während der Schulferien in Pakistan einen Mann zu heiraten, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Später hat ihr Vater sie fast mit einem Messer getötet, weil sie nicht begeistert von seiner Wahl war und die Familien-Zusammenführung in Deutschland ihm nicht schnell genug ging. Fliehen konnte die junge Frau mit Hilfe einer muslimischen Lehrerin, die sie um Hilfe gebeten hat, und einer Schulsozialarbeiterin, die mit Amina eine Beratungsstelle aufgesucht hat.
Die Schule war der erste Anlaufpunkt für Amina. Ihr Glück war, dass es Vor-Ort-Unterricht gegeben hat; das war während der vergangenen beiden Jahre durch die Corona-Pandemie nicht selbstverständlich. Besonders junge Frauen, die auch sonst wenig Kontakte zu ihrer Umgebung haben dürfen, hatten dadurch noch größere Schwierigkeiten, nach Hilfe zu suchen. In Baden-Württemberg hat die landesweite mobile Fachberatungsstelle YASEMIN der eva deshalb fortwährend Angebote in digitalen Medien ausgebaut und unter „yasemin_beratungsstelle“ einen eigenen Instagram-Account eingerichtet. Die Mitarbeiterinnen haben kreativ versucht, Zugänge zu den Mädchen und jungen Frauen sowie zu vertrauten dritten Personen zu erhalten. Dadurch ist die Gesamtzahl der Klientinnen 2021 gegenüber dem Vorjahr sogar um 36 Prozent angestiegen: 238 junge Frauen wurden beraten.
Dringender Bedarf für weiteren Notaufnahmeplatz bei NADIA
Parallel konnte bei der neuen Kurzzeit-Zufluchtstelle NADIA der eva weiteren jungen Frauen geholfen werden. Von Juli 2020 bis 31. März 2022 haben 48 Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 27 Jahren bei NADIA kurzfristig einen sicheren, anonymen Wohnplatz für bis zu zwölf Wochen gefunden. Dieser war nötig, wenn sie sehr rasch aus ihrer Familie fliehen mussten. 40 weiteren jungen volljährigen Frauen musste die eva absagen, obwohl das Angebot von NADIA passend für sie gewesen wäre: Beide Notaufnahmeplätze, die das Land für diese Altersgruppe finanziert, waren belegt. Das zeige deutlich, dass es dringenden Bedarf für einen weiteren Notaufnahmeplatz gibt, sagte Dagmar Braun, die zuständige Abteilungsleiterin der eva. „Wir haben beim Land den dritten Platz beantragt und hoffen, dass dieser Antrag bewilligt wird.“ – „Wir haben das Thema hoch auf unserer Agenda“, erklärte Birgit Locher-Finke vom Sozialministerium; allerdings sei die finanzielle Lage des Landes angespannt.
Angespannt ist auch die Lage junger Frauen wie Amina. Sie hat auch heute noch große Angst vor ihrem Vater, sie sieht ihn immer noch mit dem Messer auf sich zukommen. Trotzdem hat sie es geschafft, vergangenes Jahr Abitur zu machen. Gerade absolviert sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Heute gehe es ihr viel besser als früher, berichtet sie: „Ich würde jungen Frauen in ähnlichen Situationen raten, sich Hilfe zu holen, damit sie selbst über ihr Leben bestimmen können.“ (uli)