Treff Sozialarbeit der eva: Menschenrechte als Profession – Spannung zwischen unterschiedlichen Ansprüchen von Klienten, Gesellschaft und Berufsethos
Stuttgart. Soziale Arbeit ist ein Berufsfeld, in dem es darum geht, die Menschenrechte zu wahren. So wird es an Hochschulen gelehrt. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Wer kümmert sich um die Menschenrechte, wenn etwa ein Klient zu wenig Selbstbewusstsein hat, um sich gegen einen Unterbringungsbeschluss vor Gericht zu wehren? Beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) im November sind pädagogische Leitungs- und Fachkräfte aus verschiedenen Handlungsfeldern der sozialen Arbeit zu Wort gekommen. Sie haben mit praktischen Beispielen die Konflikte zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewusst gemacht. Mit der Fachveranstaltung hat sich die eva an der Reihe „30 Tage im November – Vom Wert der Menschenrechte“ beteiligt, die von "Die Anstifter" angestoßen wurde.
Das professionelle Handeln soll sich an den Menschenrechten orientieren. So hat es die Schweizerin Silvia Staub-Bernasconi Anfang der 1990er Jahre formuliert. Ein Sozialarbeiter, eine Sozialarbeiterin ist deshalb nicht nur dem Klientel und dem Arbeitgeber verpflichtet, sondern zudem dem „Mandat der Profession“. Dieses Mandat bietet Schutz vor unethischen Dienstanweisungen. Prof. Rolf Ahlrichs, der an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg lehrt, hatte beim Treff Sozialarbeit das Beispiel einer solch unethischen Dienstanweisung parat: In einer Wohngruppe sollten Sozialarbeiterinnen die Krankenversicherungskarten von jungen Geflüchteten einziehen. Damit sollte verhindert werden, dass die jungen Menschen ihre Karten an Freunde verleihen, die keinen Versicherungsschutz haben. Doch diese Regel sollte nicht für alle Bewohner der Gruppe angewendet werden – war also diskriminierend und hat die Menschenrechte verletzt.
„Wir brauchen Utopien“
„Sozialarbeiterinnen sind nicht nur gefragt, die Menschenrechte zu achten, sondern sie sollten ihre Klienten ermächtigen, diese einzufordern“, sagt Rolf Ahlrichs. Wie schwer das manchmal ist, darüber hat Elisabeth Stahl berichtet, die im Flandernhaus in Esslingen arbeitet. In diesem Wohnheim des Rudolf-Sophien-Stifts leben Menschen mit psychischer Erkrankung, die teilweise mit richterlichem Beschluss dort untergebracht sind. Und das oft sehr lange; die Dauer könnte durchaus hinterfragt werden. Doch die gesetzlichen Betreuer haben daran meist wenig Interesse. „Die Betroffenen selbst sind es nicht gewöhnt, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet, und haben keine Kraft, ihren Anspruch auf Teilhabe zu formulieren – geschweige denn, vor ein Sozialgericht zu ziehen“, sagt Elisabeth Stahl.
Die Spannung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der Klienten, der Gesellschaft und dem Berufsethos kennt auch Jonas Kabsch. Er leitet das Geschäftsfeld Sozialpsychiatrie der BruderhausDiakonie im Landkreis Reutlingen. Während die Gesellschaft erwartet, dass psychisch Kranke im besten Fall wieder erwerbsfähig werden und sich unauffällig verhalten, möchten die Klienten, dass ihr Alltag besser gelingt. Auch wirtschaftliches Handeln gehört zum professionellen Anspruch der Sozialen Arbeit, ist Jonas Kabsch überzeugt. Die Widersprüche, die sich aus den unterschiedlichen Ansprüchen von Klienten, Geldgebern und Gesellschaft ergeben, sind nicht immer lösbar. Doch selbst wenn es in der Praxis manchmal fast utopisch scheint, sich an den Menschenrechten zu orientieren, ist Kabsch wichtig, daran festzuhalten: „Wir brauchen Utopien, an denen wir uns ausrichten könnten.“
Menschenrechte als Antrieb, bei der eva zu arbeiten
Sascha de Lima Beul, Bereichsleiter des Internationalen Beratungszentrums der eva, hat beim Treff Sozialarbeit davon erzählt, wie er sowie seine Kolleginnen und Kollegen mit sich gerungen haben, als nach einem Aufruf des Stuttgarter Oberbürgermeisters 500 Wohnungen von Privatleuten für ukrainische Geflüchtete zur Verfügung gestellt wurden – aber bitte nur für diese und nicht für Geflüchtete aus anderen Ländern. „Das war für uns ein so klarer Fall von Diskriminierung, dass wir gesagt haben, dann wollen wir als eva diese Unterkünfte nicht betreuen.“ Auch wenn ihm und seinen Mitarbeitenden bewusst war, dass den Geflüchteten eine private Wohnung willkommener ist als ein Platz in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle.
Für Suvi-Kristin Welt sind die Menschenrechte „mein Antrieb, als Sozialpädagogin bei der eva zu arbeiten.“ Sie hat in ihrem Tun bei der Schulsozialarbeit und der Mobilen Jugendarbeit schon manches erreicht, um etwa die Nöte ihrer Klientinnen und Klienten aus Osteuropa sichtbarer zu machen und in politischen Gremien zu Gehör zu bringen. „Das ist manchmal mühsam und man macht sich dabei nicht beliebt. Aber für unsere Zielgruppe ist es wichtig, zu merken, dass wir uns auch politisch auf den Weg machen“, ist Suvi-Kristin Welt überzeugt. (ds)