Stuttgart. Michael Blume ist ein gefragter Mann. Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung wird derzeit oft darum gebeten, zu erklären, warum Kritik an der Politik Israels und unverhohlener Antisemitismus oft Hand in Hand gehen. Den Vortrag beim Treff Sozialarbeit zum Thema „Rechtsradikalismus und Antisemitismus als Herausforderung für die soziale Arbeit“ hatte Blume schon länger versprochen. Verena Fiebig vom Kompetenzzentrum gegen Extremismus hat im Anschluss über die versteckten Codes der Rechtsextremen und Aussteigerprogramme für sie gesprochen.
„Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten von dahinter stehenden Mächten.“ Eine Aussage, die die Legitimation der Regierung infrage stellt und große Zweifel am demokratischen System der Bundesrepublik offenbart – und die mehr als die Meinung einer Splittergruppe ist. Über 31 Prozent der Teilnehmenden einer repräsentativen Befragung haben in Baden-Württemberg auf diese Frage mit „stimme ich voll oder überwiegend zu“ geantwortet, weitere 19 Prozent fanden die Aussage teilweise korrekt. Ein Befund, den Michael Blume seinen Ausführungen zu Verschwörungsmythen und ihren antisemitischen Ausprägungen vorangestellt hat. Auf den Begriff „Mythen“ legt der Religionswissenschaftler und Antisemitismus-Beauftragte der baden-württembergischen Landesregierung Wert, von Verschwörungstheorien will er nicht sprechen. Denn Theorien seien wissenschaftlich überprüfbar, „Verschwörungstheorien“ sind dies nicht und sollten deshalb auch nicht so genannt werden.
Stuttgart als Hauptstadt der Querdenker
„Es gibt mittlerweile einen libertären Antisemitismus, der sich darauf beruft, die jüdisch mitbestimmte Weltverschwörung würde die persönlichen Freiheitsrechte beschneiden“, berichtet Blume. Ein relativ neues Phänomen, das auf Querdenker-Demos offenkundig wird. Insbesondere in Baden-Württemberg gibt es eine lange Tradition von Obrigkeitsskepsis und esoterischen Bewegungen, zu denen Blume in Teilen auch die Anthroposophie zählt. „Es ist kein Zufall, dass Stuttgart zur Hauptstadt der Querdenker wurde“, meint Blume.
Der Religionswissenschaftler teilt die Verfestigung vom Verschwörungsglauben in vier Stufen ein: Erstens das „Blunting“, das Ausblenden von Nachrichten und Fakten. „Das tut jeder – man kann sich nicht rund um die Uhr mit der Weltlage beschäftigen“, sagt Blume. Als zweite Stufe benennt er das Phänomen des Dualismus: Hier identifizieren sich die Menschen mit einer Gruppe, die in der eigenen Wahrnehmung auf der richtigen Seite steht. Die anderen sind die „Mächtigen“, die „Medien“, die „Schlafschafe“, während die eigene Gruppe begriffen hätte, dass etwa Covid 19 nicht gefährlicher als eine Grippe sei. Die komplexe Faktenlage wird in ein dualistisches Schema gepresst, es gibt nur noch Feinde oder Freunde.
Im Judentum wird die Bildung sehr hoch geschätzt
Die dritte Stufe ist der Antisemitismus: Dem Judentum als Schrift- und Bildungsreligion wird unterstellt, eine heimliche Weltherrschaft anzustreben oder innezuhaben, „die Zionisten oder Illuminaten kontrollieren alles“. Tatsächlich wird im Judentum seit jeher die Bildung sehr hoch geschätzt. Während nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung Juden sind, liegt der Anteil der Nobelpreisträger unter ihnen bei 20 Prozent. „Das hat eben mit der Betonung der Bildung zu tun“, so Blume. „Bei der Bar Mizwa, die der protestantischen Konfirmation ähnlich ist, wird dem Jugendlichen in der Synagoge applaudiert, wenn er aus der Thora lesen kann“, erläutert er weiter. Ihm ist es als Antisemitismus-Beauftragtem wichtig, solche Zusammenhänge auf vielen Kanälen zu verbreiten. Deshalb sind er und sein Team auf Twitter und Instagram präsent, auf Youtube hat er den Kanal „Blume erklärt“.
Als vierte Stufe kommt die Tyrannophilie dazu: Der eigene Führer gilt als unantastbar, nur ihm ist zu trauen. So erklärt Blume auch die Loyalität der Unterstützer von Donald Trump, die zu ihm halten, egal was dieser tut.
Neue Medien befördern Verschwörungsmythen
Er rät davon ab, in direkte Konfrontation zu gehen, wenn ein Gesprächspartner sich antisemitisch äußert. Wenn Argumente wie Waffen eingesetzt werden, wird der andere umso mehr mauern. Anhänger von Verschwörungsmythen haben ein geschlossenes Weltbild, in dem Argumente nur als Beweis zählen, dass der andere manipuliert sei. „Gespräche auf der Beziehungsebene sind viel geeigneter“, sagt Blume. ‚Wo hast du das denn gelesen‘ oder ‚Möchtest du dir nicht mal diese Podcast-Folge anschauen?‘ seien geeignetere Repliken auf antisemitisch gefärbte Äußerungen, insbesondere von Jugendlichen. „Deren Verschwörungsmythen sind noch nicht so gefestigt“, weiß er. Problematisch wird es jedoch, wenn die Schädigung anderer die Konsequenz antisemitischer Äußerungen ist: „Hier gilt es, freundlich, aber bestimmt entgegenzuhalten“, sagt er.
Dass Verschwörungsmythen derzeit Konjunktur haben, hat laut Blume auch mit dem Auftreten der Sozialen Medien zu tun. „Historisch betrachtet ist der Antisemitismus immer explodiert, wenn neue Medien in Erscheinung traten“, sagt der Wissenschaftler. Als Beispiel nennt er die Hexenverfolgung, die durch die Erfindung des Buchdrucks befeuert wurde, und den Nationalsozialismus, der die neuen Medien Radio und Film perfekt für sich genutzt hat.
Verena Fiebig arbeitet im Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg (Konex). Hier gibt es eine auf Freiwilligkeit beruhende Aussteigerberatung für Extremisten aller Art. Im Konex werden Polizisten, aber auch Pädagogen, Schulpsychologen und Sozialarbeiter geschult, um rechtsextreme Codes zu erkennen, etwa auf T-Shirts, Plakaten oder CD-Covern. Das Konex gehört zum Innenministerium, dient der Extremismus-Prävention und arbeitet als Koordinierungsnetzwerk verschiedener Beteiligter.
Beziehung ist oft wichtiger als logische Argumente
„In rechtsextremen, aber auch in anderen extremistischen Milieus gehören Verschwörungsmythen zum Kernbestand der Ideologie“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch weil dies psychologische Vorteile bieten würde: Das eigene Selbst werde aufgewertet, die Komplexität der Welt reduziert. Corona gälte in rechtsextremen Kreisen als bewusste Irreführung, um eine neue Weltordnung der „Globalisten“ – ein Codewort für Juden – zu etablieren. Rechtsextremismus sei einerseits ein hypermaskulines Phänomen; die Klarheit der Rollenzuschreibungen mache dieses Milieu aber auch für manche Frauen und Mädchen attraktiv, sagt Verena Fiebig.
Wie antisemitische Verschwörungserzählungen an die Jugendlichen weitergegeben werden, dafür hat Verena Fiebig ein eindrückliches Beispiel parat: Über die bei Jugendlichen nach wie vor hoch im Kurs stehende Rapmusik. In einem Song des rechtsextremen Rappers Chris Ares werden alle einschlägigen Vokabeln benannt – von der „Fremdbestimmung durch die USA“, der „okkupierten Hochfinanz“ und den „gleichgeschalteten Medien“ bis zur „Umvolkung“ durch Migrationsbewegung.
Auch Verena Fiebig plädiert dafür, nicht nur auf logische Argumente zu setzen in der Auseinandersetzung mit jungen Menschen, die sich antisemitisch äußern. „Peers oder Familienangehörige haben einen viel größeren Einfluss als externe Personen“, sagt sie. „Deshalb ist Beziehungsarbeit wichtig: ‚Ich habe Angst um dich, du lässt gar keine anderen Meinungen mehr zu‘ könnten Sätze sein, mit denen man ins Gespräch kommt.“ (ds)