Die Jugendberufshilfe der Evangelischen Gesellschaft (eva) und der Caritasverband Stuttgart sehen die geplante Gesetzesänderung des Bundesarbeitsministeriums kritisch: Sie haben große Bedenken, dass junge Leistungsempfänger von Bürgergeld deshalb weniger passgenau unterstützt werden können.
Wie seine berufliche Zukunft aussehen könnte, wusste Aria R.* lange nicht. Seine Nächte hat er mit exzessivem Zocken zugebracht, sein Selbstwertgefühl stand bei null. Heute ist Aria im zweiten Jahr seiner Ausbildung zum Erzieher. Dass der 23-Jährige so weit gekommen ist, verdankt er dem Jobcenter und der Vermittlung an das Projekt „Yes, you can!“, das ist seine tiefste Überzeugung. Doch ob jungen Menschen wie ihm auch in Zukunft in dieser Weise geholfen werden kann, steht in Frage. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil plant eine Änderung der Sozialgesetzgebung: Statt der Jobcenter soll künftig die Agentur für Arbeit für den Weg in den Beruf von Menschen unter 25 Jahren zuständig sein, die Bürgergeld erhalten. Die Evangelische Gesellschaft Stuttgart (eva) und der Caritasverband Stuttgart, die seit Jahren maßgeschneiderte Angebote für diese Klientel anbieten und große Erfolge vorzuweisen haben, halten wenig von dieser Verschiebung. Auch die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin und der Leiter des Stuttgarter Jobcenters kritisieren das Vorhaben des Bundesarbeitsministeriums.
Aria hatte keinen Plan von seiner Zukunft
Mit 15 Jahren ist Aria aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Er hat hier seinen Realschulabschluss gemacht, danach ging es für ihn nicht mehr weiter: „Ich hatte keinen Plan, ich konnte noch nicht einmal einen Lebenslauf schreiben.“ Er hat sich – erfolglos – mit verschiedenen Praktika versucht und seine innere Leere mit exzessivem Computerzocken gefüllt. „Ich habe mich nur noch nachts rausgetraut, um mir kurz vor Ladenschluss noch Red Bull zu kaufen.“ Selbstbewusstsein und ein gesundes Verhältnis zu seinem Körper hatte er da schon lange nicht mehr. Für Aria kam die Wende mit dem Projekt „Yes, you can!“. An dieses Angebot der eva vermittelt das Jobcenter junge Menschen, die Bürgergeld beziehen und nicht nur Schwierigkeiten mit der Berufsfindung haben, sondern auch sonst mit Problemen kämpfen wie zum Beispiel Schulden, Spiel- oder Drogensucht, Depressionen, mangelnde Sprachkenntnisse. Die eva und die Caritas in Stuttgart haben für diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein weites Netz an Angeboten gespannt. „Gerade für junge Menschen mit besonderen Beratungsbedarfen sind individuelle Hilfeleistungen notwendig“, sagt Ulrike Mucke, Bereichsleiterin für Arbeit-Beschäftigung-Ausbildung bei der eva.
„Ich war immer unpünktlich. Zu den Terminen bei meiner Beraterin von ‚Yes, you can!‘ bin ich aber nie zu spät gekommen. Sie hat auf alle meine Fragen eine Antwort gewusst und mir immer weitergeholfen, nie locker gelassen. Ich verdanke ihr so viel“, sagt Aria. Die Suche nach einem dualen Ausbildungsplatz zum Erzieher war nicht einfach, aber sie ist innerhalb eines halben Jahres geglückt. Bei „Yes, you can!“ hat der 23-Jährige nicht nur seinen Lebenslauf in Form gebracht, sondern auch wieder ein gesundes Verhältnis zu seinem Körper bekommen: „Ich habe dort im Fitnessraum angefangen zu trainieren und später mit dem Boxen begonnen. Das hat Struktur in meinen Tag gebracht und ich bin wieder selbstbewusster geworden“. Jetzt ist Aria im zweiten Jahr seiner Erzieherausbildung und sich sicher, dass er den richtigen Beruf gewählt hat.
Taschenspielertricks auf Kosten junger Menschen
Ob junge Menschen wie Aria künftig in dieser Form begleitet werden können, steht derzeit allerdings in Frage. Das Bundesarbeitsministerium will künftig junge Empfänger von Bürgergeld zur Weiterbildung an die Agentur für Arbeit vermitteln. Die Strukturen, um diese jungen Menschen mit ihren vielfältigen Problemen dort individuell zu beraten, sind jedoch nicht vorhanden. Diese Änderung soll ab 2025 im Etat des Bundesarbeitsministeriums 900 Millionen Euro sparen und über die Arbeitslosenversicherung - also aus einem anderen Topf - finanziert werden. „Als Taschenspielertricks im haushaltspolitischen Verschiebebahnhof auf Kosten junger Menschen“ kritisiert dies der Sozialwissenschaftler Stefan Sell in seinem Blog "Aktuelle Sozialpolitik" (Beitrag vom 20.Juli).
Sollte die Reform beschlossen werden, würde das Prinzip „Hilfe aus einer Hand“ aufgegeben werden: Für finanzielle Hilfen müssten die jungen Erwachsenen weiter zum Jobcenter, für Stellensuche und Weiterbildung zur Arbeitsagentur. „Dies ist für stark belastete junge Menschen eine Überforderung“, befürchtet Ulrike Mucke und fragt: „Ist die Entlastung des Bundeshaushalts auf dem Rücken der jungen Menschen der richtige Weg im Zeichen des Fachkräftemangels und fehlender Auszubildenden?“
Auch die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin hat einen Brandbrief verfasst
Auch Eckhard Juwig, Fachdienstleiter für die Jugendberufshilfe beim Caritasverband Stuttgart, ist alarmiert ob der geplanten Gesetzesänderung: „Wenn die Reform kommt, sehen wir unsere bewährten und passgenauen Angebote in Gefahr und befürchten schwerwiegende Nachteile für unsere jungen Klienten.“ Rund 575 Jugendliche und junge Erwachsene werden derzeit in Stuttgart nach der Vermittlung durch das Jobcenter von eva und Caritas betreut. „Wir leisten durch die Aktivierung, Unterstützung, Beratung und Vermittlung von jungen Erwachsenen einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und zum sozialen Frieden in der Stadt“, so Ulrike Mucke und Eckhard Juwig in einem Brief an den Stuttgarter Gemeinderat. Darin fordern sie dazu auf, sich gegen diese geplante Gesetzesänderung einzusetzen. Die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann hat gemeinsam mit Jochen Wacker, dem Leiter des Jobcenters, ebenfalls einen Brandbrief an die Stuttgarter Bundestagsabgeordneten formuliert, der eindringlich vor den Folgen dieser Gesetzesänderung warnt.
Aria ist fest davon überzeugt, dass er seinen Weg nicht gefunden hätte ohne „Yes, you can!“. „Ich verdanke meiner Beraterin so vieles, ich kann ihr nicht genug dafür danken“. (ds)
*Name geändert