In der öffentlichen Debatte zur so genannten „Armutsmigration“ mangelt es nicht an plakativen Thesen. Den Auftakt hatte die CSU mit der Parole gemacht: „Wer betrügt, der fliegt“. Über den Tenor der Diskussion lässt sich ohne Zweifel streiten. Tatsache aber ist, dass auch in Stuttgart viele Zuwanderer aus EU-Staaten wie Rumänien oder Bulgarien unter prekären Bedingungen leben. Sie haben keinen oder einen bisher nicht geklärten Anspruch auf Sozialleistungen, benötigen aber schnelle existenzsichernde Hilfen. „Willkommen oder unerwünscht? Sozialarbeit in der Zwickmühle“ lautete das Thema beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 19. März. Bei der Analyse der Probleme waren sich die Podiumsteilnehmer aus Gemeinderat, Sozialer Arbeit und Kirche schnell einig. Die Suche nach Lösungen gestaltete sich hingegen schwieriger. Breiten Zuspruch fand die Forderung, in Stuttgart endlich einen Runden Tisch mit allen beteiligten Akteuren zu installieren. Das hatte der Sozialausschuss des Gemeinderats bereits im Oktober 2012 beschlossen. In die Tat umgesetzt wurde er bisher nicht.
"Wir als freie Träger bewegen uns täglich im Zwiespalt“
„In den letzten Jahren kommen immer mehr Zuwanderer in die offenen Angebote der Wohnungsnotfallhilfe“, beschrieb Thomas Winter, Abteilungsleiter bei der eva, die Lage. Meist sind es Arbeitssuchende aus EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien, aber auch Griechenland, Spanien oder Portugal. Sie haben keinen Anspruch auf Hartz IV oder andere Sozialleistungen, es sei denn sie sind als Selbstständige tätig oder können bei der Einreise bereits einen Job vorweisen. Viele können das nicht. Und so landen sie in den Notübernachtungen, Tagesstätten und Fachberatungsstellen. „Diese Menschen sind oft obdachlos und mittellos und sprechen kaum Deutsch“, so Winter. „Und wir als freie Träger bewegen uns täglich im Zwiespalt.“
Denn auf der einen Seite ist das Hilfesystem bis an die Grenze ausgelastet. Von Seiten der Kostenträger wie der Stadt Stuttgart gibt es keinen klaren Auftrag, diese Menschen mit Hilfsangeboten zu unterstützen. Auf der anderen Seite aber steht das Selbstverständnis der Sozialarbeiter und das Gebot der christlich-diakonischen Nächstenliebe: Es gilt, allen Menschen in Not zu helfen. Nicht nur denen, die einen Rechtsanspruch darauf haben.
„Ich habe keine Lösung dafür“
„Ja, diese Zwickmühle sehen wir auch“, sagte Stadtrat Philipp Hill von der CDU-Fraktion im Stuttgarter Gemeinderat. „Ich habe auch keine Lösung dafür.“ Im Sozialgesetzbuch II sei klar definiert, wer Leistungen erhält. Würde die Stadt Stuttgart darüber hinaus freiwillige Hilfen anbieten, würde sich das schnell herumsprechen. „Und die Probleme in der Stadt würden größer und nicht kleiner werden“, so Hill. Er halte es für notwendig, „eine gewisse Härte“ an den Tag zu legen, um nicht immer mehr Zuwanderer anzulocken.
Grünen-Stadträtin Clarissa Seitz hingegen betonte, dass Deutschland grundsätzlich vom offenen europäischen Binnenmarkt profitiere. Und daran sei geknüpft, dass „Menschen aus anderen EU-Ländern zu uns kommen können, um hier ihr Glück zu suchen“. Sie müssten allerdings bereit sein, die deutsche Sprache zu lernen und sich weiterzubilden. Seitz zeigte Verständnis für das Dilemma, in dem die Sozialarbeiter vor Ort steckten. „Mir würde es auch schwerfallen, Menschen in Not keine weitergehenden Hilfen anbieten zu können.“
„Wir operieren am offenen Herzen“
Wie sieht dieser Zwiespalt konkret aus? Peter Meyer, Leiter der eva-Stadtmission, gab einen Einblick in den Arbeitsalltag der Wärmestube. In der Tagesstätte im Haus der Diakonie können arme und einsame Menschen günstig essen, einen Kaffee trinken, Wäsche waschen und duschen. „Wir operieren am offenen Herzen“, so Meyer. „Manchmal strömen ganze Gruppen von 30 Leuten bei uns herein. Da haben wir keine Zeit, Grundsatzfragen zu diskutieren. Wir müssen dafür sorgen, dass der Betrieb weiterläuft.“ Viele Stammgäste der Wärmestube fühlten sich durch die Gruppen aus Südosteuropa gestört und verdrängt. Daher habe das Team beschlossen, nur noch Gruppen von maximal zehn Leuten gleichzeitig einzulassen. „Aber das ist nicht plausibel – weder für uns, noch für unsere Ehrenamtlichen“, so Meyer. Denn auch die freiwilligen Helfer seien schließlich angetreten, um sich gegen die Ausgrenzung von armen Menschen einzusetzen. Und nun müssten sie selbst ausländische Gäste wegschicken. Das sei schwer auszuhalten.
Armutsmigranten „nicht nur als Problem wahrnehmen“
„Die Kommunen warten auf Lösungen durch das Land und den Bund“, stellte Hans-Peter Ehrlich fest, SPD-Stadtrat und ehemaliger Stuttgarter Stadtdekan. „Aber die Leute sind da. Und brauchen jetzt Hilfe.“ Auch die SPD-Fraktion habe keine schnelle Lösung parat. Warum das Thema im Gemeinderat seit Oktober 2012 auf Eis liege und bisher so wenig passiert sei? „Die Ämter waren komplett mit der Unterbringung von Asyl-Bewerbern beschäftigt“, so Ehrlich. „Aber jetzt ist es Zeit, den Fokus nochmal auf die Armutszuwanderer zu legen.“
„Wir haben eine Verantwortung, diesen Menschen offen zu begegnen und sie nicht nur als Problem wahrzunehmen“, sagte Stadtdekan Søren Schwesig. Niemand würde aus Jux und Tollerei seine Heimat verlassen und weggehen. In Rumänien beispielsweise herrsche große Not. Jedes zweite Kind lebe dort in Armut. „Wir sollten alle darauf achten, wie wir über diese Menschen reden“, so Schwesig. Auch die Kirchengemeinden seien aufgefordert, sich für die sprachliche und soziale Integration der Zuwanderer einzusetzen.
Probleme sind lange beschrieben – jetzt braucht es Lösungen
„Die Probleme sind schon lange beschrieben“, bilanzierte Volker Häberlein, ehemaliger Abteilungsleiter bei der eva. „Jetzt brauchen wir schnelle Lösungen.“ Die drei Stadträte zeigten sich offen dafür, den bereits vor zweieinhalb Jahren anvisierten Runden Tisch nun endlich ins Leben zu rufen. „Ich will mich gerne dafür einsetzen“, sagte Philipp Hill und kündigte an, in der Sache Kontakt zu Sozialamtsleiter Stefan Spatz aufzunehmen. Mögliche Teilnehmer wären neben Vertretern verschiedener sozialer Dienste etwa die kommunale Politik, die Polizei, das Ordnungsamt und das Job-Center. Die Fachleute der Sozialen Arbeit gaben den Stadträten beim Treff Sozialarbeit bereits konkrete Lösungsansätze mit auf den Weg. „Wünschenswert wäre ein unkomplizierter Zugriff auf den Dolmetscher-Dienst der Stadt“, sagte Georg Hegele vom Internationalen Beratungszentrum. Thomas Winter plädierte außerdem dafür, dass die Beratung der Armutszuwanderer dezentral in den Tagesstätten und offenen Angeboten stattfinden müsse. Dafür bräuchte es zusätzliche personelle Kapazitäten. Denkbar wäre etwa ein mobiles Einsatzteam der Stadt, das in verschiedenen Sprachen beraten könne.
„Wir müssen ehrlich sein“, sagte Stadtrat Hill. „Es wird ein Spannungsfeld bleiben. Aber wir dürfen Sie dabei nicht alleine lassen.“