Stuttgart. Was Geflüchtete in ihrer Heimat erlebt haben, belastet auch in Deutschland ihre Gesundheit. Beim Treff Sozialarbeit am 21. November im Haus der Diakonie der eva hat Helmut Schröder vom Wissenschaftlichen Institut der AOK einen Einblick in die Gesundheitssituation von Flüchtlingen gegeben. Wie die Folgen von traumatischen Erfahrungen behandelt werden können, darüber hat der Psychologe Dieter David berichtet.
Wer schwach und chronisch krank ist, der hat sich erst gar nicht auf den Weg gemacht. Wem die Flucht aus Syrien, Afghanistan und Irak nach Deutschland gelungen ist, der war in Regel jung, gesund und belastbar. Doch wie sieht die gesundheitliche Situation der Menschen heute in Deutschland aus, die in ihrer Heimat und auf der Flucht Krieg und Gewalt erlebt haben? Hartmut Schröder ist Soziologe und arbeitet beim Wissenschaftlichen Institut der Krankenkasse AOK (WIdO) in Berlin. Er hat beim Treff Sozialarbeit eine Studie vorgestellt, in der 1880 Geflüchtete nach ihrem Gesundheitszustand befragt wurden. Die Kriterien der Auswahl: Die Befragten waren alle über 18 Jahre alt und lebten zum Zeitpunkt der Erhebung (Mai 2017 bis März 2018) höchstens seit zwei Jahren in Deutschland. Doppelt soviele Männer wie Frauen waren dabei, im Schnitt waren die Befragten 33 Jahre alt.
Mutlosigkeit, Schlafstörungen und Schmerzen
Traumatische Erfahrungen haben Dreiviertel der Geflüchteten erlebt. Ein Fünftel hat angegeben, Folterungen erlitten zu haben, 60 Prozent haben von Kriegserlebnissen berichtet. „Die Folgen auf ihren Gesundheitszustand sind gravierend", berichtet Helmut Schröder. Während bei einer vergleichbaren Gruppe der deutschen Bevölkerung nur drei Prozent ihre Gesundheit als „sehr schlecht" bezeichnet haben, sind es bei den Geflüchteten 12 Prozent. Mutlosigkeit, Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Rücken- und Kopfschmerzen zählen zu den häufigsten Symptomen. Noch eine Zahl ist für Schröder alarmierend: Knapp die Hälfte der Befragten, (44,6 Prozent) legen den Verdacht auf eine depressive Erkrankung nahe, fühlen sich mutlos und traurig. „Ein extrem hoher Wert", so Schröder, „selbst wenn die Krankheit Depression nicht bei jedem ausbricht."
Nicht warten, bis die Krankheit klinisch wird
Mit dem deutschen Gesundheitssystem haben viele Geflüchtete Schwierigkeiten, sprachliche Barrieren sind das größte Hindernis. „Dass die AOK keine Dolmetscher bezahlen darf, halte ich für falsch", sagt Schröder. Er empfiehlt zudem, Geflüchteten nicht erst nach 15 Monaten eine Gesundheitskarte auszugeben, sondern sofort. Denn wer sich in der Unterkunft erst an einen Sozialarbeiter wenden muss, um einen Behandlungsschein zu bekommen, zögert den Arztbesuch hinaus. Dabei wäre es für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen umso wichtiger, schnell medizinisch versorgt zu werden. Schröder plädiert für Schwerpunkteinrichtungen, in denen sich Spezialisten, die auch in der Kulturvermittlung geschult sind, um die Traumabehandlung von Geflüchteten kümmern. „Eine vergewaltigte Frau sollte schnell in einer solchen Einrichtung behandelt werden – und nicht erst, wenn die Störungen so groß sind, dass sie in der Psychiatrie landet", fordert der Soziologe.
Wieder Freude erleben können
Der Psychologe Dieter David arbeitet schon seit dem Jahr 2002 mit traumatisierten Geflüchteten. Der Leiter der psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene (PBV) der eva hält nichts davon, traumatisierte Flüchtlinge „wie rohe Eier" zu behandeln. „Wir sollten sie nicht als ‚die Armen‘ sehen, die ein Leben lang leiden. Wir wollen sie professionell dabei unterstützen, wieder Lebensfreude zu entwickeln", sagt David. So sollen aus den Menschen, die sich als ohnmächtige Opfer erlebt haben, die Gewalt und Todesnähe erfahren haben, „vitale Überlebende" werden, die Arbeit und Freunde finden. Humor, „auch politisch unkorrekte Witze", sind für David dabei ein wichtiger Türöffner.
Das Ziel, die Ressourcen der traumatisierten Klienten zu mobilisieren, erreichen David und sein Team in mehreren Schritten. Am Anfang steht eine internistische Untersuchung, um Beschwerden wie ständigen Durchfall und Herzrasen zu behandeln. Schwerwiegende Schlafstörungen sind in der psychiatrischen Sprechstunde Thema, die von Martin Roser, Chefarzt des Rudolph-Sophien-Stifts, angeboten wird. Danach folgt die eigentliche Traumatherapie, bei der die Klienten die belastenden Erlebnisse aussprechen. Ein wichtiger Punkt ist dabei das Verstehen: „Der Körper speichert die Gefühle, die nach einer traumatischen Stresssituation entstanden ist. Daraus können psychische Störungen, aber auch chronische Schmerzen entstehen. Es ist wichtig, dass die Patienten diesen Ablauf kennen und begreifen, was in ihnen vorgeht", sagt David. Zentral sind in der Behandlung geschulte Dolmetscher. Das sieht auch Martin Roser so: „Die Dolmetscher sind der Schlüssel. Das hätte ich vorher nicht vermutet."
Für mindestens genauso wichtig wie die Traumatherapie hält David die Angebote des PBV, die von Nicht-Psychologen gemacht werden: Es gibt Kurse von Designern, Musikern, Sportlehrern. „Wer hier etwas findet und regelmäßig wahrnimmt, verkürzt die Traumatherapie", so seine Erfahrung. 6.500 Klienten hat die PBV seit 2002 behandelt. Der einzige Wermutstropfen: Sechs bis sieben Monate beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz derzeit. (ds)