Stuttgart ist gut aufgestellt, was den Kinderschutz angeht, lobt Jörg M. Fegert beim Treff Sozialarbeit im Haus der Diakonie am 23. Januar. Und doch gibt es noch sehr viel zu tun, um Kinder vor sexueller, physischer und psychischer Gewalt zu schützen. Denn die bekannten Fälle seien immer nur die Spitze des Eisbergs: Es gibt in Deutschland Hundertausende von Menschen, die in ihrer Kindheit Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung erlebt haben. Warum es beim Kinderschutz wichtig ist, die Dimension in allen Bereichen ernst zu nehmen, hat der Ärztliche Direktor der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit vielen Zahlen und Studien belegt.
Bei Professor Jörg M. Fegert mehren sich in jüngster Zeit die Interviewanfragen. Vor zehn Jahren wurde der Missbrauchsskandal am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin publik, jetzt wollen viele Journalisten von Fegert wissen, was seitdem passiert ist, welche Fortschritte es beim Kinderschutz gibt. Der Wissenschaftler und Studienleiter ist seit Jahrzehnten mit dem Thema befasst. „Vieles wird gut gedacht, aber in der Praxis nicht gut gemacht“, lautet seine Zusammenfassung.
Nicht nur durch den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, auch durch in die Schlagzeilen geratene Einzelfälle wie die zu Tode geprügelte dreijährige Yagmur in Hamburg, den von seiner Mutter im Internet verkauften Jungen in Staufen und die missbrauchten Pflegekinder auf dem Campingplatz Lügde, wurde das Thema Kinderschutz in den vergangenen Jahren immer wieder heftig diskutiert. „Doch diese emotional erschütternden Fälle verdecken die reale Dimension von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch und lösen sogar eine Distanzierung aus, weil man denkt, sie seien extrem selten und singulär“, sagt Fegert. Der alltägliche Missbrauch in seinen Dimensionen sei jedoch der eigentliche Skandal.
Laut Kriminalstatistik haben 0,017 Prozent der Kinder 2016 schweren Missbrauch erlebt – das sind aber nur die Fälle, die zur Anzeige kamen. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Fegert. Forschungen, für die Menschen im Erwachsenenalter zu den Erfahrungen in ihrer Kindheit befragt wurden, kamen zum Ergebnis, dass 14 Prozent aller Männer und Frauen Übergriffe in ihrer Kindheit erlebt hatten. „Es gibt ebenso viele Menschen mit Diabetes wie Menschen, die schweren Missbrauch erlebt haben. Aber darauf ist die Gesellschaft nicht eingestellt“, gibt Fegert zu bedenken. Rund zehn Prozent der Befragten haben angegeben, in der Kindheit mehrere Misshandlungsformen erlebt zu haben, körperliche Gewalt, aber auch emotionale und medizinische Vernachlässigung. Wenn man die Zahlen der repräsentativen Studien auf die Gesamtbevölkerung hochrechnet, zeigt sich das Ausmaß: Hunderttausende von Menschen sind deutschlandweit betroffen.
Wahrnehmen, reagieren, therapieren
Die Vereinten Nationen haben das erkannt und den Schutz von Kindern gegen Ausbeutung und sexuelle Gewalt bei den Nachhaltigkeitszielen ganz nach oben gesetzt. Denn 90 Prozent der Misshandlungsfälle werden von den Institutionen nicht wahrgenommen. „Man kann auch heutzutage Soziale Arbeit studieren, ohne etwas über Kinderschutz zu erfahren“, so die Schlussfolgerung Fegerts nach einer Prozessbeobachtung. Hier konnte der angeklagte Sozialarbeiter glaubhaft nachweisen, mit Kinderschutz in seiner Ausbildung nie in Berührung gekommen zu sein. Die Stuttgarter Kinderschutzambulanz ist für den Wissenschaftler eine vorbildliche Einrichtung. Auch die medizinische Kinderschutzhotline 08 00.1 92 10 80 für Fachpersonal, die zwischen Medizin und Jugendhilfe übersetzt, sei hilfreich: So könnten medizinische Befunde, die nicht verständlich sind, kommuniziert werden. Die Anrufer kommen aus vielen Feldern, auch Rettungssanitäter sind dabei, die etwa bei einem Einsatz auf vernachlässigte Kinder treffen und nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen.
Das missbrauchte Kind nicht noch einmal zum Opfer zu machen, das ist für Fegert extrem wichtig. Ihn stört das Sprachbild vom „Seelenmord“, weil es dem missbrauchten Kind suggeriert, es sei zerstört. Zwar werden manche Opfer später zu Tätern – aber das ist die Minderheit: 80 Prozent der misshandelten Kinder misshandeln ihre Kinder später nicht! „Das Ziel jeder Therapie muss sein, dass man auch nach einem Missbrauch ein gutes Leben führen kann“, so Fegert. Nicht jedes sexuell missbrauchte Kind sei therapiebedürftig, ein Drittel entwickle sich ohne Störung und verfüge über Resilienz. 60 Prozent der bedürftigen Kinder und Jugendlichen bekommen allerdings nicht die geeignete traumaspezifische Therapie – obwohl Frühinterventionen wichtig sind, um Belastungsstörungen nicht zu chronifizieren und auch möglichen physischen Langzeitfolgen wie Bluthochdruck und Diabetes vorzubeugen.
Täter – und Täterinnen
Rund drei Prozent der Bevölkerung haben Missbrauch in Institutionen wie Schulen, Kirchen und Sportvereinen erlebt. „Viele pädophile Täter sind pädagogisch begabt und charismatisch“, sagt Fegert – und deshalb als Trainer, Pfarrer, Therapeut oder Lehrer respektiert. Sie schüchtern die Kinder mit dem Verweis auf die Schweigepflicht oder das Beichtgeheimnis ein. Allerdings sind es nicht nur Männer, die sich an Kindern vergehen. Dass auch Mütter Täterinnen sein können, war lange ein blinder Fleck. Dabei, so Fegert, ist die leibliche Mutter häufiger Täterin als der leibliche Vater. „Die Idealisierung der Mutter ist ein fachliches Problem.“
Sehr unbefriedigend ist das Dilemma bei der Strafverfolgung: Denn bei einem Prozess steht der Täter im Fokus. Die Maxime „zum Wohl des Kindes“ steht dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ entgegen, wenn etwa die Glaubwürdigkeit einer belastenden Aussage angezweifelt wird. „Wenn ein Kind sich einer Vertrauensperson anvertraut, ist es wichtig, die Aussagen so wörtlich wie möglich aufzuschreiben und auch den Entstehungszusammenhang der Aussage zu dokumentieren“, gibt Fegert den Zuhörern beim Treff Sozialarbeit mit auf den Weg. (ds)