Care Leaver sind überproportional von Arbeits- und Obdachlosigkeit betroffen – Treff Sozialarbeit stellt Modellprojekte in Stuttgart vor
Stuttgart. Wenn junge Menschen, die nicht in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, mit dem Erwachsenwerden ihre professionelle Betreuung verlieren, sind sie in größerer Gefahr zu straucheln als ihre Altersgenossinnen und -genossen. Fachleute wissen, dass dieser Übergang für die als Care Leaver bezeichnete Gruppe mit vielen Herausforderungen verbunden ist und unterstützt werden sollte. Dafür sprachen sich die Expertinnen und Experten beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) aus.
Zwei von der Universität Hildesheim begleitete Modellprojekte der Stadt Stuttgart und der eva zeigen, wie dieser Übergang vorbildlich gestaltet werden kann. Für Severine Thomas vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik können diese Projekte als Blaupause für andere Projekte von kommunalen, sozialen und kirchlichen Trägern dienen.
Schon neun Jahre zuvor war beim Treff Sozialarbeit eine Studie vorgestellt worden. Damals wurden die Care Leaver kaum als eigenständige Gruppe wahrgenommen. Die Untersuchung mündete in die Forderung, die Situation der jungen Menschen zu verbessern. „Inzwischen hat sich glücklicherweise etwas getan“, betonte Severine Thomas. Die Leiterin der Fachstelle Leaving Care ist Mitautorin des aktuellen Werkbuchs „Leaving Care“ der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGHF).
Positive Auswirkungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes
Severine Thomas erinnerte daran, dass „die stationäre Unterbringung in Wohngruppen oder Pflegefamilien eine der stärksten Interventionen des Staates in die Kindheit oder Jugend ist“. Wenn es auch ein richtiger Schritt sei, geschehe er nicht freiwillig, fügte sie hinzu. Deshalb erwachse daraus eine langfristige öffentliche Verantwortung, die nicht mit der Volljährigkeit endet. Studien zeigen, dass Care Leaver überproportional von sozialer Benachteiligung wie Arbeits- und Obdachlosigkeit betroffen sind.
Die Neufassung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes 2021 hat nach Einschätzung von Severine Thomas die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Übergänge in ein selbstständiges Leben besser zu gestalten. So sei für die jungen Leute der Rechtsanspruch verankert worden, nachbetreut und beraten zu werden. Bei der Hilfe- und Übergangsplanung würde den jungen Menschen nun außerdem ermöglicht, Geld anzusparen von ihrem Arbeitslohn für persönliche Anschaffungen.
Personalnot bei Beratungsstellen ist größtes Hindernis
Ziel sei, die soziale Teilhabe durch den Zugang zu Wohnraum und Bildung zu stärken, erläuterte Severine Thomas. Als problematisch schätzt sie die mangelnde Durchlässigkeit zwischen den Institutionen ein, die an der Begleitung beteiligt sind – von den Trägern der Jugendhilfe über das Jugendamt bis zum Jobcenter. Die Forscherin fordert, die rechtskreisübergreifende Kooperation bei der Hilfe voranzutreiben. Das größte Hindernis ist für Thomas jedoch die Personalnot bei den Beratungsstellen.
Die eva hat sich im Rahmen eines dreijährigen Projekts um „gelingende Übergänge für Care Leaver in Stuttgart“ gekümmert. Dabei haben die eva-Bereiche Ambulante Hilfen junge Erwachsene sowie Hilfen zur Erziehung nicht nur Beratungsangebote zu Finanzen, Wohnen, Haushalt, Recht, Arbeit oder Ausbildung entwickelt. Sie haben auch einen Lebensordner für Unterlagen und einen Ablaufplan für den Übergang erstellt. Fachlich begleitet wurden die eva-Mitarbeitenden dabei vom Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS).
Stadt Stuttgart hat Projektstelle eingerichtet
Ziel des Projekts sei es, prekäre Lebenssituationen zu verhindern, in die häufig besonders junge Frauen geraten würden, bekräftigten Sonja Hagenmayer und Dorothee Stahl, die bei der eva verantwortlich für das Projekt waren. Als Hürden bezeichneten sie die geringe Verbindung zwischen den Rechtskreisen sowie den Flickenteppich von Hilfeangeboten.
Parallel dazu hat die Stadt Stuttgart in Zusammenarbeit mit der eva begonnen, sich stärker für die Care Leaver zu engagieren. Eine Projektstelle wurde eingerichtet, besetzt mit Amelie Hosp von der Abteilung Erziehungs- und Jugendhilfen beim Jugendamt. In Kooperation mit dem Care Leaver-Verein Stuttgart ist eine Plattform als Ort der Begegnung und Vernetzung entstanden für die jungen Menschen. Ein so genannter Auszugsordner, in dem alle Punkte berücksichtigt sind, die bei einem Umzug in die eigene Wohnung bedacht werden müssen, wird genauso angeboten wie ein Wohnführerschein, bei dem es um praktische Dinge beim eigenständigen Wohnen geht. Ein Notfallfonds wurde eingerichtet, um unkompliziert Geld bereitzustellen, zum Beispiel zur Finanzierung eines Studiums. Die Informationen sind auf der Homepage der Stadt gebündelt. (ang)