Beim Treff Sozialarbeit der eva am 12. Mai haben Experten und Zuhörer über die sozialraumorientierte Reform der Hilfen für Erziehung diskutiert und Bilanz gezogen.
Stuttgart. Das Kind ist erwachsen geworden, stolze 18 Jahre alt. So viele Jahre sind zwischenzeitlich vergangen, seit im Jahr 1998 im Stuttgarter Stadtbezirk Zuffenhausen ein bis dahin bundesweit einzigartiges „Experiment“ gestartet wurde: Die sozialräumliche Ausrichtung des Hilfeplanverfahrens, um unter Einbeziehung der jeweiligen Lebenswelt Kindern und Jugendlichen möglichst individuell und passgenau Hilfen anbieten zu können. Das Flattichhaus der Evangelischen Gesellschaft (eva) war die erste Einrichtung, in der das neu erarbeitete Konzept seinerzeit in der Praxis erprobt wurde. „Wir hatten damals eine halbe Stunde darüber diskutiert, ob wir das machen sollen. Wir wollten aber schlicht nicht schuld daran sein, wenn aus dem Projekt nichts wird“, so Beate Rose vom Stuttgarter Jugendamt, die zu den Pionieren der ersten Stunde gehört.
"Große Diskussionen ausgelöst"
Die heutige Bereichsleiterin des Beratungszentrums Möhringen hat zum Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft am 12. Mai einen Stapel alter und teilweise handkolorierter Folien mitgebracht, die bildhaft skizzieren, welche konzeptionellen Überlegungen hinter dem grundlegenden Umbau der Stuttgarter Erziehungshilfelandschaft Ende der 90er Jahre stehen, wie der Prozess begleitet wurde, warum die Trägerkonferenz das Flattichhaus damals als einige mögliche Einrichtung für einen Pilotversuch ausgewählt hatte und welchen Weg die Beteiligten seinerzeit genommen haben. „Maßanzüge statt Konfektionsware“ steht auf einer der Folien, ein zwischenzeitlich berühmtes Schlagwort, das seinerzeit „große Diskussionen ausgelöst“ habe, so Beate Rose. „Die Kritiker haben dagegen gehalten, dass auch Konfektionsware passen kann“, betont sie.
Angetrieben worden waren die Reformgedanken auch von der damaligen Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts, in dem Anfang der 90er Jahre ein ganz neues Verständnis von Hilfe formuliert wurde und das im Vergleich zum bis dahin gültigen deutsche Jugendwohlfahrtsgesetz ein Paradigmenwechsel war, der für Aufbruchsstimmung sorgte. 75 Millionen Mark betrug der Etat für den Bereich Hilfe zur Erziehung vor der Reform. „Der Großteil der Kinder, die mit dem Angebot erreicht wurden, waren damals in Einrichtung außerhalb Stuttgart untergebracht“, so Klaus Meier, der seit fast 40 Jahren bei der Evangelischen Gesellschaft ist, zwischenzeitlich als Abteilungsleiter Dienste für Kinder, Jugendliche und Familien in Stuttgart. Im Vergleich zu früher habe sich das System auch finanziell deutlich weiterentwickelt, betont er.
Einbindung der Familien spielt eine große Rolle
Aber hat es sich bewährt, in einem knapp zehn Jahre andauernden Prozess das Arbeitsfeld HzE so umzustellen, dass sich die Erziehungshilfen nicht mehr nur an einzelnen Kindern oder Jugendlichen orientieren, sondern auch das gewachsene Umfeld der Familien und jungen Menschen mit berücksichtigt und in die Arbeit einbezogen wird? Über die Antwort auf diese Frage wird bis heute durchaus kontrovers diskutiert, insbesondere auch im Kreis jener Sozialträger, die seinerzeit von der Umstellung des Angebots betroffen waren. „Die Diskussionen zwischen den einzelnen Trägern in Stuttgart und um die Landeshauptstadt herum waren teilweise sehr heftig, aber auch sehr fruchtbar“, so Beate Rose.
Unbestritten und im Bereich der Wirksamkeitsforschung erzieherischer Hilfen immer wieder nachgewiesen ist, dass die Einbindung der Familien und deren Eigenaktivität eine große Rolle spielen und wesentlich zum Erfolg beitragen können. Je stärker die Zielsetzung und Lösungsideen durch die Familie selbst entwickelt und mitgetragen werden, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit. Die Idee dabei sei, so Meier, die Ressourcen des Umfelds junger Menschen zu nutzen, die Familie, Nachbarn, Schulen, Vereine und Cliquen, um die Probleme zu überwinden, die ja in diesem Umfeld entstehen. Der Blick in die Sozialräume, der sich im Vergleich zu früher so wie die Problemlagen auch deutlich verändert hätten, sei unerlässlich für eine gezielte Hilfe, betont auch Bastian Krüger von der Jugendhilfeplanung der Stadt Stuttgart.
Getragen wird die Hilfe zur Erziehung in Stuttgart von verschiedenen Einrichtungen, die untereinander vernetzt sind und miteinander auf vielfache Weise kooperieren. Neben dem Jugendamt selbst, das zehn Beratungszentren betreibt, gehören dazu unter anderem auch die Evangelische Gesellschaft, das Kinderzentrum St. Josef oder die Stiftung Jugendhilfe aktiv. Jedem der zehn Planungsbereiche der Stadt ist ein Erziehungshilfeträger für sozialräumliche Hilfe zugeordnet. Kernelement dabei sind die so genannten HzE-Stadtteilteams, in denen die Fachkräfte der Beratungszentren und der zuständigen Erziehungshilfeträger lebensweltorientierte und fallbezogene Hilfsangebote erarbeiten.
"Wir haben uns auf den Weg gemacht und viel erreicht"
Den größten Nutzen bei diesem Modell sieht Delia Godehardt vom Beratungszentrum Bad Cannstatt in der zeitnahen und flexiblen Hilfe für betroffene Familien. Früher habe es beim Jugendamt einen zentralen Pool für Familienhelfer gegeben, auf die man nicht selten zwei Monate habe warten müssen. Der Familienhelfer selbst habe einen Fall in Vaihingen gehabt, einen anderen in Bad Cannstatt und einen dritten in Weilimdorf. Heute seien die Familienhelfer wesentlich schneller verfügbar, die Stunden könnten flexibler verteilt werden, betont sie: „Und sie sind vor allem auch Experten in ihrem Sozialraum“.
Viel beachtet worden war der Umbau der Erziehungshilfelandschaft derweil nicht nur von den Beteiligten und Betroffenen in der Landeshauptstadt selbst. Auch bundesweit hat die Fachwelt „mit einem neidischen und kritischen Blick“ auf das Stuttgarter Experiment und Pionierprojekt geschaut, wie sich Markus Trelle von der Caritas Stuttgart erinnert. „Stuttgart hat damals sehr im Brennpunkt gestanden“, so der Fachdienstleiter Erziehung und Beratung. Man habe immer wieder Delegationen aus anderen Bundesländern zu Besuch gehabt und das Konzept der sozialräumlichen Orientierung sei nach und nach nicht nur von anderen Kommunen in Deutschland übernommen worden, sondern teilweise auch weiter geschwappt nach Österreich und in die Schweiz. „Die Stuttgarter Lösung hat damals sehr viel Unruhe verursacht, aber wir haben uns auf den Weg gemacht und sehr viel erreicht.“