Experten diskutierten beim Treff Sozialarbeit der eva über das Stuttgarter Konzept der Ganztagesgrundschule
Sag mir, aus welcher Schicht du kommst, und ich sage Dir, ob du gut in der Schule sein wirst: Noch immer hängt der Bildungserfolg in Deutschland stark von der Herkunft ab. Die Ganztagesgrundschule soll das ändern und Kindern gerechtere Startchancen ins Leben geben. Darin sind sich alle Akteure in Stuttgart einig. Doch zahlreiche Details sind nach wie vor strittig. Über das Rahmenkonzept der Ganztagesgrundschule haben Experten beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 24. Januar informiert und ein Beispiel aus der Praxis vorgestellt. Ein Ziel war es, Vorbehalte gegenüber der Schulreform auszuräumen. Das Thema lautete: „Ganztagesgrundschule und Jugendhilfe – wie geht das in Stuttgart?“
„Das ist kein Reförmchen, sondern eine umwälzende Veränderung“, sagte Anja Philipp von der eva, die den Treff Sozialarbeit moderierte. „Das löst meistens Ängste aus.“ Bis 2018/20 sollen von den 72 Stuttgarter Grundschulen alle, die das anstreben, auf den Ganztagesbetrieb umgestellt sein, und zwar möglichst auf eine so genannte „gebundene“ Form. Das bedeutet, dass alle Schüler verbindlich die Kernzeit von 8 bis 16 Uhr in der Schule verbringen. Sportvereine, Musikschulen etc. fürchten um ihren Nachwuchs, da die Grundschüler dann deutlich weniger Zeit für‘s Training oder den Klavierunterricht außerhalb der Schule haben werden. Und so manche Eltern fühlen sich in ihrer Erziehungskompetenz beschnitten und würden gerne flexibler regeln, wann sie ihr Kind von der Schule abholen können.
Dr. Margarete Finkel, Leiterin der Jugendhilfeplanung der Stadt Stuttgart, hingegen sieht die Ganztagesgrundschule als „Zukunftschance“, durch die „ganz neue Formen des Lernens“ etabliert werden können. „Bildung heißt nicht nur, Zeugnisse und Zertifikate zu erwerben“, so Finkel. „Bildung ist vielfältige Weltaneignung.“ In der Ganztagesgrundschule sollen daher klassischer Schulunterricht und pädagogische Angebote eng miteinander verzahnt werden. Hierfür brauche es aber eine „neue Allianz“ aller Akteure, die am Aufwachsen der Kinder beteiligt sind. „Natürlich wird das Zeitfenster enger, in denen offene Kinder- und Jugendangebote die Schüler erreichen können“, so Finkel. Dies treffe ebenso auf die Hilfen zur Erziehung zu, mit denen das Jugendamt und die freien Träger Familien in sozialen Schwierigkeiten unterstützen. „Aber da sind wir gefordert, gemeinsam mit den Schulen neue Modelle zu entwickeln.“
Schülerhäuser als Zwischenlösung
Um klar zu machen, wo Stuttgart in Sachen Ganztagesgrundschule steht, warf Karin Korn, Leiterin des Schulverwaltungsamtes, einen Blick auf die Ausgangslage. „Mittelfristig fehlen in Stuttgart etwa 4.500 Betreuungsplätze“, so Korn. Durch veränderte Familienstrukturen und den Fachkräftemangel sei die Nachfrage nach einer Betreuung auch im schulischen Bereich gestiegen. „Gleichzeitig hat sich der Ausbau von Hortplätzen aber stark verlangsamt, da die Priorität auf dem Kita-Ausbau liegt.“ Zwar schreite Stuttgart mit der Ganztagesgrundschule voran. „Den hohen Bedarf können wir jedoch so kurzfristig nicht decken, da hier erhebliche Investitionen nötig sind“, so Korn.
Als Zwischenlösung werden derzeit daher so genannte Schülerhäuser eingerichtet. Sie entsprechen dem Betreuungs-Standard in den Horten, die Angebote finden aber nach dem Unterricht direkt in der Schule statt. „Die Schülerhäuser sind schnell umsetzbar und sollen einen sanften Übergang zur Ganztagesgrundschule ermöglichen“, so Korn. Während hier aber Unterricht und pädagogische Angebote noch weitgehend unabhängig voneinander erfolgen, sollen Lehrer und sozialpädagogische Fachkräfte in der Ganztagesgrundschule eng zusammenarbeiten.
Genau diese enge Verzahnung müsse in der Öffentlichkeit besser dargestellt werden, forderte Sabine Wassmer vom Stuttgarter Gesamtelternbeirat. „Für Eltern ist schwer nachzuvollziehen, warum sie ihre Kinder nicht früher abholen dürfen. Sie verstehen die Betreuung am Nachmittag als optional.“ Aber genau diese Trennung von Unterricht und Betreuung will die Ganztagesschule aufbrechen.
Beispiel: Ganztagesgrundschule Gablenberg
Wie das funktionieren kann, zeigt die Grundschule Gablenberg, die bereits seit September 2010 in Kooperation mit der eva einen gebundenen Ganztagesbetrieb anbietet. Jeden Vormittag steht eine Stunde „individuelles Lernen“ auf dem Stundenplan, das von Lehrern und sozialpädagogischen Fachkräften gemeinsam begleitet wird. Dies gilt auch für viele Angebote, die den Schülern am Nachmittag zur Wahl stehen: Tanz, Zirkus, Kochen, Experimentieren, Musik und vieles mehr. „Die Kinder können hier ganz ihren Begabungen und Neigungen nachgehen“, so Juliette Decklar von der eva, die das sozialpädagogische Team in Gablenberg leitet. Schulrektor Uwe Heilek ist von dem Konzept überzeugt: „Die Leistungen der Schüler in Deutsch und Mathe habe sich deutlich verbessert.“ Zudem werden die Kinder selbstbewusster, weil sie sich in den Nachmittagsangeboten ausprobieren können, ohne sofort bewertet zu werden. „Viele sind bei der Schulaufnahme noch total verschüchtert. Ein Jahr später stellen sie sich selbstbewusst vor die Gruppe und trauen sich, etwas zu sagen.“ Die größte Herausforderung sehen Uwe Heilek und Juliette Decklar allerdings darin, genügend Zeit für Absprachen zu finden. Denn das ganzheitliche Konzept funktioniere nur, wenn sich Lehrer und Sozialpädagogen eng abstimmen.
Alle Experten waren sich einig, dass die Ganztagesgrundschule der richtige Weg ist. Doch an der Umsetzung gab es auch Kritik aus dem Publikum. Mancherorts werde ein Ganztagesbetrieb eingerichtet, ohne dass die Schule die dafür notwenigen Räume hat, bemängelte eine Zuhörerin. Andererseits würden bestehende Angebote wie die Schülerhorte vorschnell abgebaut. „Wenn es die neuen Angebote noch nicht ausreichend gibt, warum warten sie dann nicht damit, bestehende Strukturen aufzubrechen?“ Dass noch nicht alles in Stein gemeißelt ist, versteht Sabine Wassmer vom Gesamtelternbeirat aber auch als Chance, die neue Schulform mitzugestalten. Margarete Finkel pflichtete ihr bei: „Nutzen Sie die Gelegenheit, sich einzumischen und Standards einzufordern. Wir haben jetzt die historische Möglichkeit, das System Schule umzugestalten.“