Vernissage der Ausstellung Kunst trotz(t) Armut – Werke berühmter Künstler neben denen von Künstlern am Rande der Gesellschaft – ästhetisch und verstörend
Stuttgart. Der Kunstbetrieb hat mit armen Menschen keine Berührungspunkte. Bei der Vernissage der Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“, die am 5. Mai im Kunstbezirk im Gustav-Siegle-Haus und in der Leonhardskirche in Stuttgart eröffnet wurde, war das anders. Denn in dieser Bilderschau sind nicht nur Werke von berühmten Künstlern zu sehen, die sich mit Obdachlosigkeit und Armut beschäftigt haben. Daneben hängen auch Bilder und Fotografien von Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, am Rande der Gesellschaft zu stehen – und die ihre Erfahrungen auf künstlerisch hohem Niveau in Bilder und Skulpturen umsetzen.
Ein Jahr auf der Straße, festgehalten in einem Zyklus von zwölf Bildern, Monat für Monat: Der Stuttgarter Künstler Stefan Joppien hat für den Januar die Essensausgabe in der Vesperkirche gemalt, sein Bild für den Mai zeigt einen ratlosen Mann inmitten von leeren Flaschen auf einer Brücke. Für den August hat er eine frühmorgendliche Szene am Kiosk dargestellt: dort treffen sich diejenigen, die früh auf den Beinen, aber nicht auf dem Weg zur Arbeit sind. „Die Bilder sind so bunt, das ist alles gar nicht so trostlos“, sagte eine Besucherin bei der Vernissage, als sie den sehr detailliert gemalten Jahreslauf betrachtete. Genau darum geht es in dieser Bilderschau, die noch bis zum 1. Juni zu sehen ist: um einen Perspektivenwechsel, um die Überschreitung von Grenzen, um Aufmerksamkeit für die, die sonst am Rande der Gesellschaft stehen. Stefan Joppin ist vor über einem Jahr gestorben, andere Künstler wie Alexander Reiser, Thomas Sperl und Günter Kreuzer, die in Stuttgart leben und arbeiten, waren bei der Vernissage dabei.
Zu sehen sind in der Bilderschau auch viele Werke von Künstlern mit großem Namen: Sigmar Polkes Fotoarbeiten zu den Kölner Bettlern sind darunter genauso wie eine Jeans, in die Joseph Beuys Löcher geschnitten hat. Wolfgang Bellwinkel zeigt die Wohnungslosen nicht über ihr Gesicht, sondern über ihre Behausung. Er hat ihre Decken und Schlafsäcke fotografiert, in Hochglanz und in großem Format – ästhetisch und erst auf den zweiten Blick verstörend.
Insgesamt sind 140 Exponate von 35 Künstlerinnen und Künstlern ausgestellt. Dazu gibt es in den nächsten Wochen an unterschiedlichen Orten ein Programm: Begegnungen, Gespräche, Theater, Kabarett, Konzerte sowie zwei in Stuttgart entstandene kleinere Ausstellungen. Ein Begleitprogramm, das „so dicht gereiht ist wie Perlen an einer Schnur“, so der Hausherr des Kunstbezirks, Dr. Peter Hoffmann, bei der Vernissage.
„Viele Künstler kennen zwar Armut, doch der etablierte Kunstbetrieb ist weit weg von diesen Erfahrungen. In unseren Einrichtungen leben Menschen isoliert, verletzt und ohne Hoffnung, die nicht gesehen werden. Diese Welten zusammenzubringen, das ist der Sinn dieses Ausstellungsprojekts“, sagte Prof. Dr. Jürgen Armbruster, Vorstandsmitglied der Evangelischen Gesellschaft (eva), bei seiner Eröffnungsrede. Die eva ist Mit-Veranstalterin der Ausstellung – neben der Ambulanten Hilfe, dem Kreativprojekt AMOS, der Diakonie Württemberg, den Evangelischen Wohnheimen Stuttgart, dem Sozialunternehmen Neue Arbeit und dem Diakoniepfarramt Stuttgart. „Kunst wird hier zum Ort der Begegnung, aber auch der Irritation“, so Armbruster weiter. Wenn es nach ihm ginge, könnte das ein Dauerzustand sein: „Ich träume noch immer von einer Galerie der Outsider-Art – und zwar mitten in der Stadt.“
Alexander Reiser arbeitet als Krankenpfleger im Wichernhaus, einem Pflegeheim der eva für ehemalige Wohnungslose. Er hat einem mittlerweile verstorbenen Bewohner ein Denkmal gesetzt. Die kleine Bronzefigur eines Mannes im Rollstuhl mit groben Gesichtszügen steht ganz oben auf einer schwarzen Stele. „Dieser Mann hat es uns nicht leicht gemacht. Wir Pfleger erfahren viel von den Härten unserer Patienten, müssen manches aushalten und verarbeiten. Für mich ist die Kunst ein Mittel dazu“, sagte Alexander Reiser bei der Führung durch die Ausstellung.
Stefan Spatz, der Leiter des Sozialamts, betonte in seinem Redebeitrag, wie wichtig kulturelle Teilhabe gerade für Menschen in Armut ist. Das belegen Zahlen: „Seit wir die Bonuscard plus ausgeben, die auch freien Eintritt in Museen einschließt, haben wir eine um zwanzig Prozent höhere Nutzung. Jeder fünfte Berechtigte einer Bonuscard geht auch ins Museum.“ Besonders gut gefällt dem Sozialamtsleiter, dass die Ausstellung die Arbeiten von etablierten Künstlern auf Augenhöhe neben Werken von Künstlern zeigt, die von Armut betroffen sind.
Andreas Pitz hat die Ausstellung „Kunst trotzt Armut“ des Bundesfachverbandes Existenzsicherung und Teilhabe sowie der Diakonie Deutschland konzipiert. Sie ist seit 2007 auf Wanderschaft und war schon in 40 deutschen Städten zu sehen. An jeder Station wird sie durch Arbeiten lokaler Künstler ergänzt. Auch Pitz hat in seiner Rede betont, wie wichtig die gleichberechtigte Präsentation der Arbeiten ist, egal ob ein Künstler berühmt oder obdachlos ist: „Das bewirkt gesellschaftliche Anerkennung – und die ist wichtig.“ Besonders die Arbeiten von Thomas Sperl haben ihn in Stuttgart beeindruckt: Fotorealistische Zeichnungen eines Raben aus verschiedenen Perspektiven, kombiniert mit kurzen Texten, düster und eindringlich. „Diese Zeichnungen haben eine große Qualität. Die würde ich gerne dauerhaft in die Ausstellung integrieren“, sagte Andreas Pitz.
Info: Die Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ ist noch bis Donnerstag, 1. Juni 2017, an zwei Veranstaltungsorten zu sehen: in der Leonhardskirche sowie im Kunstbezirk. Die Leonhardskirche ist in dieser Zeit dienstags bis freitags von 11 bis 18 Uhr geöffnet, an Sonn- und Feiertagen 30 Minuten vor und nach den Gottesdienstzeiten. Im Kunstbezirk im Gustav-Siegle-Haus ist die Ausstellung dienstags bis samstags von 15 bis 19 Uhr zu besichtigen. Der Eintritt ist frei, Spenden werden gerne angenommen.