Nutzer der Gemeindepsychiatrischen Zentren diskutieren mit Bundestagskandidaten über Teilhabe, Arbeitschancen, Wohnungsmangel und Altersarmut
Stuttgart. Diese Gelegenheit wollten sich viele nicht entgehen lassen: Bis auf den letzten Platz gefüllt war das Gemeindepsychiatrische Zentrum (GPZ) Möhringen der eva am 9. August, als sich die Bundestagskandidaten aus dem Wahlkreis Stuttgart I den Fragen der Zuhörer stellten. Und davon hatten die etwa 60 Nutzerinnen und Nutzer des GPZ und anderer Einrichtungen für Menschen mit psychischer Erkrankung reichlich. Fehlende Teilhabe, schlechte Arbeitschancen, der massive Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die Angst vor Altersarmut – die Besucher brachten viele Themen und Forderungen zur Sprache. Über eines waren sich Politiker und Publikum einig: „Wir brauchen eine Gesellschaft, in der wir offen über psychische Erkrankungen sprechen können“, sagte Judith Skudelny, FDP-Bundestagskandidatin. „Hier ist noch viel Aufklärungsarbeit notwendig.“
Die Evangelische Gesellschaft (eva) und der Caritasverband für Stuttgart als Träger der Gemeindepsychiatrischen Zentren hatten zu der Diskussionsveranstaltung eingeladen. Damit wollten sie den Nutzerinnen und Nutzern der GPZ und deren Angehörigen die Möglichkeit geben, die Bundestagskandidaten kennenzulernen und ihre Anliegen direkt an die Politiker zu richten.
Heiß diskutiert wurde unter anderem das Thema Arbeit. Eine Besucherin berichtete, dass ihr Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde und sie nun als Frührentnerin kaum über die Runden kommt. Ein anderer erzählte, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankungen arbeitsunfähig und daher auf Grundsicherung angewiesen ist, die vorne und hinten nicht reiche. „Ich finde es unfair, dass psychisch kranke Menschen auf dem Arbeitsmarkt im Wettbewerb mit gesunden Menschen stehen“, sagte eine andere Zuhörerin. Ein anderer fragte: „Wie soll man von 8,50 Euro Mindestlohn leben?“
Dr. Stefan Kaufmann (CDU) machte sich für Integrationsunternehmen wie die Neue Arbeit, ein Tochterunternehmen der eva, stark. „Für viele ist die Beschäftigung dort eine Perspektive, um wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Daher müssen Integrationsunternehmen gefördert werden.“ Auch Ute Vogt (SPD) forderte einen stabilen und öffentlich geförderten zweiten Arbeitsmarkt. „Sonst gibt es für viele keine Chance, einer Beschäftigung nachzugehen.“ Judith Skudelny (FDP) sagte: „Menschen mit psychischen Erkrankungen können Betriebe nachhaltig solide bereichern.“ Voraussetzung dafür sei es aber, dass die Arbeitgeber informiert sind, was dahinter steckt, wenn jemand über Wochen ausfällt. Nur dann könnten sie den Wiedereinstieg auch unterstützend begleiten. Um die unteren Einkommen zu entlasten, müsse das Geld in Deutschland sinnvoll verteilt werden, sagte Dr. Dirk Spaniel (AfD). Aus seiner Sicht müsse zum Beispiel „die Finanzierung anderer europäischer Länder“ gestoppt werden.
Neben vielen anderen Themen ging es auch um den Wohnungsmangel in Stuttgart. „Es ist in dieser Stadt fast unmöglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden“, sagte ein Zuhörer. Er wollte von den Politikern wissen, wie sie diesen Notstand beheben wollen.
Brigitte Lösch (Bündnis 90 / Die Grünen), die in Vertretung für den Direktkandidaten Cem Özdemir an der Diskussion teilnahm, sagte: „Keine politische Ebene kann sich aus dem Thema bezahlbarer Wohnraum raushalten.“ Sie forderte, die Wohnungsgemeinnützigkeit wieder einzuführen und bei der Mietpreisbremse nachzujustieren. Johanna Tiarks (Die Linke) forderte deutlich mehr Investitionen in den sozialen Wohnungsbau. „Und es darf nicht sein, dass Wohnraum Spekulationsobjekt ist. Das muss beendet werden.“
Zwei Stunden reichten kaum aus, um alle Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Und so suchten zahlreiche Besucher nach der Diskussion noch das persönliche Gespräch mit den Politikern. Friedrich Walburg, der zuständige eva-Abteilungsleiter, und sein Caritas-Kollege Klaus Obert freuten sich als Veranstalter über das enorme politische Interesse der Besucher. „Vielen Dank für diese leidenschaftliche Diskussion“, sagte Obert. „Machen Sie auch am 24. September von Ihrem Recht Gebrauch und gehen Sie wählen.“