Islambeauftragter der württembergischen Landeskirche fordert beim Treff Sozialarbeit der eva mehr Personal für Integration von muslimischen Kindern und Jugendlichen
Stuttgart. Seit der Silvesternacht sind sie in aller Munde: Gewaltbereite junge Männer mit Migrationshintergrund. Dabei wird oft von toxischer Männlichkeit gesprochen. Antworten auf die Frage, wie diesem Phänomen angemessen begegnet werden kann, hat der Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) zum Jahresbeginn gesucht. Der Islambeauftragte der württembergischen evangelischen Landeskirche, Friedmann Eißler, sprach mit seiner Forderung an die Politik den rund neunzig Zuhörerinnen und Zuhörern aus dem Herzen: „Es braucht bei der Integration mehr Investitionen in personelle Ressourcen und größere Fachkompetenz.“
In seinem Vortrag zum Thema „Angekommen, ausgeschlossen oder abgeschottet? Musliminnen und Muslime zwischen Partizipation und Irritation“ stellte Eißler klar, dass durchaus ein Zusammenhang bestehe zwischen mangelnder Integration und Islam. Monokausale Erklärungen, die den Islam als Hauptgrund ausmachen, lehnte er jedoch ab. Er sieht ein Gemisch aus religiösen und sozialen Faktoren. Dieses könnte dazu führen, dass die deutsche Gesellschaft in Verbindung zum Koran abgewertet und die westliche Gesellschaft als gottlos und verdorben bezeichnet werde.
Verschiedene Ursachen für Radikalisierungsgefahr
Die Radikalisierungsgefahr hat für den Theologen verschiedene Ursachen. Dazu zählen patriarchale Strukturen, Ängste vor dem Verlust von Werten und Macht sowie falsche Ehrvorstellungen. Aber auch die fehlende Selbstbestimmung von Frauen, die in streng patriarchalen Gesellschaften nicht einmal die Kontrolle über ihren eigenen Körper haben. Ursachen seien auch die Distanzierung von der hiesigen Kultur, die Abwertung von Minderheiten und Antisemitismus.
Aus eigener Erfahrung an Schulen berichtete Eißler von mangelndem Rückhalt in Familien. „Viele Kinder und Jugendliche werden mehr oder weniger sich selbst überlassen und erleben psychische und physische Gewalt.“ Eine Mischung aus Gewaltphantasien, Männlichkeits-Inszenierung, fehlender Arbeit und wenig Sprachverständnis kann seiner Ansicht nach zu heftigen Reaktionen führen. „Frust und Ohnmacht münden in Wut“, konstatierte Eißler. Allerdings hätten auch 37 Prozent der muslimischen Jugendlichen Diskriminierung erlebt.
Religion und Kultur werden bei Integration zu wenig berücksichtigt
Nach Einschätzung von Eißler sind bisher Religion und Kultur bei der Integration „viel zu wenig berücksichtigt worden“. Es sei zum Beispiel offensichtlich, dass es für die Integration von Flüchtlingen nicht ausreiche, ihnen das Grundgesetz in die Hand zu drücken, ohne ihnen die Lebenszusammenhänge deutlich zu machen. Deutschkenntnisse sind für Eißler genauso unabdingbar wie die Einbindung in den Arbeitsmarkt. Er forderte, die Integrationskurse professioneller zu gestalten und nicht nur ein Programm abzuspulen, sondern auf die Menschen zuzugehen. Auch an den Schulen sollten Religion und Kultur stärker berücksichtigt werden. Außerdem setzte Eißler sich für eine systematische Herangehensweise ein. Es gelte, die jungen Menschen davon zu überzeugen, dass Freiheit sie weiterbringt. Auch die Eltern müssten stärker einbezogen werden.
Auf Zustimmung stieß Eißler bei den Vertreterinnen und Vertretern aus Einrichtungen der eva vor Ort, die aus ihrer Arbeit berichteten. Für Streetworker Timo Mildner von der Mobilen Jugendarbeit in der Stuttgarter Innenstadt ist wichtig, Dialogstrukturen zu entwickeln. Eine zentrale Säule sei dabei die Streetwork-Arbeit. Zielgruppe seien sozial benachteiligte junge Menschen zwischen 14 und 27. Darunter seien viele Geflüchtete aus muslimischen Ländern. „Uns ist zunächst eine tragfähige Beziehung wichtig. Dann könnte man ins Gespräch gehen über kritisches Verhalten wie toxische Männlichkeit“, erklärte Mildner. „Wir machen gute Erfahrungen, wenn wir nicht mit ethischer Moralkeule an die jungen Menschen herangehen.“
Akzeptieren, „dass wir eine Integrationsgesellschaft sind“
Sascha de Lima Beul vom Internationalen Beratungszentrum der eva hält das interkulturelle Verständnis für einen zentralen Faktor. Auch die 2016 aus Nordsyrien nach Deutschland geflüchtete Sherihan Osman hält es für nötig, mehr über das Thema Kultur zu sprechen, um Vorurteile abzubauen. Die Mutter von drei Kindern hat 2022 ein Studium der sozialen Arbeit begonnen und absolviert im Beratungszentrum den praktischen Teil. Sie hat selbst keine schlechten Erfahrungen im Blick auf Diskriminierungen gemacht. Doch sie bedauert, dass eine Freundin, die im Gegensatz zu ihr ein Kopftuch trägt, keine Stelle findet. Nach Ansicht von Sascha de Lima Beul müsste man endlich akzeptieren, „dass wir eine Integrationsgesellschaft sind und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen müssen“. (ang)