Auf den ersten Blick könnte es ein ganz normaler Medien-Workshop sein: Jugendliche sitzen im Kreis und schauen konzentriert auf die Displays ihrer Tablets. Es wird getippt, gewischt – und viel gelacht. Doch was Fazal, Nouman und die anderen erlebt haben, ist alles andere als normal. Sie waren noch Kinder oder Teenager, als sie allein ohne ihre Eltern aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt nach Deutschland geflohen sind, oft unter lebensgefährlichen Umständen. Bei dem Fotoprojekt „(Vor-)bildlich“ der Evangelischen Gesellschaft (eva) fotografieren die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sich und ihren Alltag in Stuttgart. Durch die Sprache der Bilder wollen sie Sprachbarrieren überwinden, auf ihre schwierige Situation aufmerksam machen und mit anderen ins Gespräch kommen. Gezeigt werden ihre Fotografien bei einer Ausstellung im Jugendhaus-Mitte, die am 19. Mai eröffnet wird.
Deutsch und Englisch, Hände und Füße, Google-Übersetzer
„Heute sucht ihr zehn Fotos für die Ausstellung aus“, sagt Medienpädagogin und Workshop-Leiterin Katrin Schlör in die Runde. Sie spricht langsam und deutlich. „Ich zeige euch eine App, mit der ihr eure Bilder bearbeiten könnt.“ Schlör hat ein selbst gemaltes Plakat mitgebracht, auf dem Funktionen wie Helligkeit, Kontrast oder Farbfilter durch Symbole erklärt sind. Die jungen Flüchtlinge lernen zwar alle Deutsch, die deutsche Grammatik bereitet ihnen aber noch Probleme. Wortungetüme wie Farbsättigung oder Spiegelung ebenso. Ist etwas mit Händen und Füßen nicht zu erklären, kommt einfach der Google-Übersetzer zum Einsatz und überträgt das Fachvokabular ins Persische oder Arabische. „Aber am besten, ihr probiert die Funktionen einfach mal aus“, sagt Schlör noch, bevor die Jugendlichen in die schier unbegrenzten Möglichkeiten der Bildbearbeitungs-App eintauchen.
Das Flattichhaus der eva hat das Foto-Projekt „(Vor-)bildlich: Jung! Alleine! Heimatlos?! Willkommen?“ im November gestartet. Finanziert wird es von der Bischöflichen Medienstiftung der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Aktion Jugendschutz Baden-Württemberg. In mehreren Workshop-Einheiten hat Katrin Schlör die sieben Jugendlichen, die von der eva und der Stadt Stuttgart betreut werden, mit den Grundlagen der Fotografie vertraut gemacht. Ab Mitte Januar hatten sie dann Zeit, ihren Alltag in Bildern festzuhalten. „Mit dem Projekt wollen wir den jungen Flüchtlingen ein Gesicht geben und ihnen den Dialog mit der Öffentlichkeit ermöglichen“, erklärt Sakir Cal, Sozialpädagoge im Flattichhaus. Denn kaum jemand nimmt von ihnen und ihrer schwierigen Lage Notiz. Sprachliche und kulturelle Barrieren stehen im Weg. Beim Fotografieren erleben die Jugendlichen außerdem ihre Selbstwirksamkeit. „In anderen Kontexten wird eigentlich immer über sie bestimmt“, sagt Medienpädagoge Benjamin Götz vom Flattichhaus. „Im Projekt entscheiden sie selbst, was sie wie fotografieren. Wir haben bewusst keine Vorgaben gemacht.“
Alleine, in einer fremden Kultur, ohne ausreichend Deutschkenntnisse
So unterschiedlich ihre Schicksale – es gibt vieles, was die Jugendlichen eint: Sie müssen alleine, in einer fremden Kultur, (noch) ohne ausreichende Deutschkenntnisse und mit ungewisser Zukunftsperspektive ihr Leben in Stuttgart meistern. Sie sind aus Krisenregionen im östlichen Afrika, aus Palästina, Irak, Syrien oder Afghanistan geflüchtet. Viele haben Gewalt, Hunger und Krieg erlebt. Manche sind gerade erst in Stuttgart angekommen, andere leben schon etwas länger hier.
So wie Rafik (Name geändert). Er war gerade 15 Jahre alt, als er nach Deutschland floh – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Als Angehörige der afghanischen Minderheit lebte er mit seinen Eltern und den fünf jüngeren Geschwistern in Iran. Es war ein Leben ohne Perspektive, voller Angst und Hoffnungslosigkeit. Afghanen dürfen in Iran weder zur Schule gehen noch arbeiten. Auch Rafik war behördlicher Willkür ausgesetzt und von Abschiebung bedroht. Seine Familie und er sahen keinen anderen Ausweg. Rafik legte sein Leben in die Hände einer Schlepperbande und gelangte nach einer dreieinhalbmonatigen Odyssee über die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich schließlich nach Stuttgart. Hier wurde Rafik in Obhut genommen und zunächst in der städtischen Notaufnahme für Jugendliche in der Kernerstraße untergebracht.
Besondere Blickwinkel, besondere Motive
Das war vor über zwei Jahren. Mittlerweile lebt Rafik, heute 18 Jahre alt, im betreuten Jugendwohnen und wird von den Hilfen zur Erziehung der eva unterstützt. Er besucht die Robert-Mayer-Schule und möchte in diesem Sommer seinen Hauptschulabschluss machen. Als er von dem Fotoprojekt gehört hat, war er sofort dabei. „Über die Fotos kann ich andere Menschen ohne Sprache meine Gedanken sehen lassen“, so der 18-Jährige.
Auch Katrin Schlör ist von dem Projekt begeistert. „Die Jugendlichen haben ganz kreative Fotos gemacht, mit tollen Blickwinkeln und besonderen Motiven“, erzählt sie. Nouman zum Beispiel hat die Stuttgarter Stadtbibliothek in Szene gesetzt. Für viele junge Flüchtlinge ist die Einrichtung am Mailänder Platz der Lieblingsort in Stuttgart. Auch Nouman verbringt hier seine Freizeit. Er trifft sich mit anderen, liest Zeitung, surft im Internet. Weitere Motive, die er und die anderen Jugendlichen festgehalten haben, sind zum Beispiel das eigene Zimmer, die U-Bahn oder das Lieblingsgericht. Eine Auswahl der Fotos wird vom 19. Mai bis 8. Juni im Jugendhaus-Mitte zu sehen sein. Weitere Ausstellungen sind geplant.