Die Jugendhilfe-Einrichtung Flattichhaus der Evangelischen Gesellschaft (eva) hat 2009 gemeinsam mit dem Jugendamt ein neues Konzept der Familienarbeit in Stuttgart auf den Weg gebracht. Nach intensiver Weiterbildung der Mitarbeitenden eröffnete 2012 die erste stationäre Wohngruppe, die nach der so genannten systemischen Interaktionstherapie und -beratung (SIT) arbeitet. Das Besondere: Die Eltern ziehen für bis zu sechs Monate gemeinsam mit ihren Kindern in die Wohngruppe ein und werden durch die pädagogischen Fachkräfte in ihrer Erziehungsrolle gecoacht. Beim Treff Sozialarbeit der eva am 29. Januar stellten Fachleute von Jugendamt und Flattichhaus diesen innovativen Ansatz vor.
Ein typisches Beispiel dafür, was man eine klassische Heimkarriere nennt, könnte so aussehen: Die alleinerziehende Mutter ist mit dem verhaltensauffälligen Marvin überfordert. Der Zwölfjährige gerät regelmäßig außer Rand und Band, schwänzt die Schule, ist aggressiv, hat vor niemandem Respekt. Irgendwann kapituliert die Mutter, der Junge kommt für einige Zeit ins Heim. Dann darf er wieder nach Hause, doch es geht nicht lange gut. Immer wieder landet Marvin in stationären Einrichtungen, und von Mal zu Mal verschlimmern sich seine Verhaltensauffälligkeiten.
Aus der Analyse solcher „Heimkarrieren“ in einer Berliner Einrichtung für „schwere Fälle“ ist der SIT-Ansatz entstanden. „Man hat festgestellt, dass die Hilfe umso wirkungsvoller und nachhaltiger ist, je stärker die Eltern im Hilfeprozess beteiligt sind“, sagte Jens Hartwig, eva-Bereichsleiter im Flattichhaus. Zentrales Element von SIT ist daher die Aktivierung der Eltern. Die Grundannahme, auf der das neue Konzept basiert: Eltern wollen gute Eltern sein und ihre Probleme in der Erziehung selbst lösen. Was bisher jedoch gefehlt hat, waren Hilfsangebote, die den Eltern eine aktive Rolle ermöglichen.
Diese Lücke schließt SIT: Indem die Eltern mit in die stationäre Wohngruppe einziehen, bleiben Mutter und/oder Vater in der Verantwortung: Sie erziehen und versorgen ihr Kind hier genauso wie sie es zu Hause tun würden. Die pädagogischen Fachleute arbeiten ausschließlich mit den Eltern, geben Hilfestellung, probieren mit ihnen in Rollenspielen neue Handlungsstrategien aus. „Ausgangspunkt für uns ist immer: Eltern sind nicht unfähig, ihr Kind zu erziehen, sondern in Mustern verfangen“, so Hartwig.
„Ich kann nicht mehr“ vs. „Wo ist das Problem?“
Beim Abgabemuster sagen die Eltern: „Mein Kind macht nur Ärger, ich kann nicht mehr.“ Als Erklärung haben sie verständliche Annahmen parat. Etwa: Mein Kind ist so respektlos, weil es gestört oder krank ist. Daraus schlussfolgern sie: Hier können nur noch Fachleute helfen. Das Gegenteil ist beim Kampfmuster der Fall: Hier sehen die Eltern nicht ein, dass es Probleme in der Familie gibt und sie Hilfe brauchen – nach dem Motto: Bei uns ist alles in Ordnung, das Problem haben der Lehrer, die Kita, das Jugendamt etc. Sollen die erstmal ihren Job machen.
„Um mit den Eltern wirksam arbeiten zu können, müssen wir erst diese Muster durch Gespräche und Rollenspiele auflösen“, so Hartwig. Erst wenn die Eltern zu echter Kooperation bereit seien, ist die Basis für positive Veränderungen geschaffen. Doch bis dahin ist es oft ein weiter Weg. Denn freiwillig ziehen die meisten Eltern nicht in die SIT-Wohngruppe im Fattichhaus ein.
Der Weg dorthin führt über das Jugendamt. „Oft muss ich das Familiengericht anrufen“, berichtete Volker Schell vom Beratungszentrum Zuffenhausen des Stuttgarter Jugendamts. Wenn Eltern vor dem Richter stünden, sei das für viele eine Art Weckruf. Sie erkennen dann den Ernst der Lage und sind bereit, etwas zu tun, um nicht das Sorgerecht aufs Spiel zu setzen.
Im Flattichhaus stehen insgesamt neun stationäre Plätze für Kinder zur Verfügung, die mit ihren Eltern auf zwei Stockwerken verteilt wohnen. Die Finanzierung der Elternplätze muss die eva als Trägerin selbst stemmen, da das Jugendamt nur die Kosten für die Kinder übernimmt. Das Jobcenter zahlt für maximal sechs Monate die Miete der elterlichen Wohnung.
Wie eine normale Woche in der SIT-Wohngruppe abläuft, schilderte der Sozialpädagoge Christoph Timme. Die Eltern wecken ihre Kinder, frühstücken mit ihnen und machen sie für die Kita oder die Schule fertig. Auch das Mittagessen kochen sie abwechselnd selbst. Die Pädagogen geben den Müttern und Vätern im Alltag regelmäßig Feedback und analysieren schwierige Situationen. „Wir besprechen mit den Eltern die Ziele, die sie erreichen wollen. Zum Beispiel, dass das Kind morgens pünktlich aufsteht. Und dann dreht sich unsere Arbeit erstmal nur um diesen ersten Schritt.“ Zentrales Element von SIT ist auch die wöchentliche Elterngruppe, in der sich die Mütter und Väter gegenseitig beraten. „Für die eigenen Probleme sind Eltern manchmal blind, aber sie haben richtig gute Ideen und Tipps für andere“, so Timme.
Für viele Eltern ist es anfangs ungewohnt, dass die Pädagogen nicht als Experten auftreten, die in der Erziehung alles besser wissen, sondern als Unterstützer auf Augenhöhe. „Wenn Eltern in einzelnen Situationen dann ihre Selbstwirksamkeit erleben, dann kann das ein unglaublicher Türöffner für weitere Schritte sein“, betonte auch Klaus-Michael Meier, der zuständige eva-Abteilungsleiter.
SIT-Wohngruppen sind zwar ein erfolgreiches Modell, eignen sich jedoch nicht für alle Familien, wie in der anschließenden Diskussion deutlich wurde. SIT komme erst dann ins Spiel, wenn andere ambulante und stationäre Hilfen gescheitert seien, so Hartwig. Auch fehlende Deutschkenntnisse oder eine schwere psychische Erkrankung von Vater oder Mutter stehen einer Aufnahme in die Wohngruppe entgegen. „Wenn eine gemeinsame Sprache fehlt oder eine psychische Erkrankung im Vordergrund steht, dann ist es nicht möglich, positiv auf die Eltern einzuwirken.“