Treff Sozialarbeit informiert über neues Vormundschafts- und Betreuungsrecht
Stuttgart. Mehr Autonomie für Menschen in Betreuung soll die Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts bewirken, die Anfang 2023 in Kraft getreten ist. Wie sich die Änderungen auswirken und wo es noch hakt, darüber haben zwei Experten im Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) diskutiert.
Die Neuerungen im Vormundschafts- und Betreuungsrecht fördern unterstützungsbedürftige Menschen dabei, selbständiger und selbstbestimmter zu leben. Sie bringen aber auch deutlich mehr Aufwand für Betreuende und Behörden mit sich – darüber waren sich die Referenten im Treff Sozialarbeit einig: der ehemalige Vormundschafts- und Unterbringungsrichter und emeritierte Professor Konrad Stolz und Dominik Platte, der Leiter der Betreuungsbehörde der Stadt Stuttgart.
Menschen mit Einschränkungen sollen jetzt selbst bestimmen
Das seit Januar geltende neue Betreuungsrecht stellt die Wünsche der Betroffenen klar in den Mittelpunkt. Wann immer möglich, sollen Menschen mit Einschränkungen selbst bestimmen. Stellvertretende Entscheidungen von Betreuenden sollen eine deutlich geringere Rolle spielen: Ist ein Mensch einwilligungsfähig, entscheidet er selbst, auch wenn es einen Betreuenden gibt – zum Beispiel in Bezug auf ärztliche Maßnahmen. „Ärzte gehen oft vorschnell auf den Vertreter zu und reden nicht als erstes mit dem Betroffenen“, ist die Erfahrung von Konrad Stolz. Nun aber werde bei entscheidungsfähigen Betreuten der Vertreter lediglich informiert.
Braucht ein Betroffener Unterstützung, um sich zu entscheiden, so muss er diese bekommen. Zum Beispiel, indem der Arzt ihn in einfacher Sprache aufklärt und sich dafür viel Zeit nimmt. Der Patient muss ausreichend Bedenkzeit bekommen. „Ist ein Betroffener stark kognitiv eingeschränkt, dann hat ein Betreuer hier die Aufgabe, ihm bei der Entscheidung zu helfen, etwa, indem er Alternativen zu der Behandlung aufzeigt. Aber er soll nicht entscheiden“, so Konrad Stolz. Was tun, wenn ein einwilligungsfähiger Betroffener sich gegen eine Behandlung ausspricht, obwohl sie sinnvoll wäre? „Dann muss die Umgebung damit leben, auch wenn der Patient sich damit schadet“, erklärte Stolz.
Wünsche der Betreuten haben Vorrang
Als Entscheider zum Zug kommen sollen Stellvertreter nur noch dann, wenn der Betreute nicht einwilligungsfähig ist, obwohl er unterstützt wird. Und selbst in diesem Falle ist zwar der Stellvertreter gefragt, er muss aber laut Konrad Stolz dennoch die Wünsche des Betreuten berücksichtigen. Lehnt zum Beispiel ein Patient die Einnahme eines bestimmten Medikaments strikt ab, muss seinem Wunsch bis zu einem gewissen Grad entsprochen werden. „Eine leichte Verschlechterung des Gesundheitszustands muss man hinnehmen“, erläuterte Konrad Stolz. Gegen den ausdrücklichen Wunsch dürfe nur gehandelt werden, um den Betreuten vor einer erheblichen Gefährdung zu schützen. Die Antwort auf die Frage, was „erheblich“ heißt, sei aber nicht einfach, räumte Stolz ein.
Auch bei der Auswahl des Betreuenden haben die Wünsche der Betreuten nun Vorrang. Durch die Reform seien dessen Aufgaben jetzt genau geregelt, lobte Konrad Stolz. Dieser müsse den persönlichen Kontakt zum Betreuten halten; tue er dies nicht, könne er entlassen werden. Sein Part sei es auch, die Wünsche des Betreuten herauszufinden und diese einzubringen. Generell gilt: Der Betreuende unterstützt den Betreuten darin, dass er seine Angelegenheiten rechtlich selbst regeln kann und nutzt seine Vertretungsmacht nur, wenn es sein muss.
Haben soziale Dienste, Ärzte oder soziale Fachkräfte den Eindruck, dass ein Mensch einen Betreuer benötigt, so können sie die zuständige Betreuungsbehörde anrufen und sich beraten lassen. Lehnt der Betroffene einen Betreuer ab, obwohl der nötig wäre, dürfen Mediziner oder Sozialarbeiter vom Schweigerecht abweichen und das Betreuungsgericht informieren. „Das ist jetzt gut geregelt“, sagte Konrad Stolz.
Werbung von Betreuenden wird zunehmend schwieriger
Dominik Platte erklärte, welche Aufgaben eine Betreuungsbehörde hat: Sie berät Menschen, die Unterstützung brauchen, im Vorfeld und vermittelt ihnen den Zugang zu anderen Anlaufstellen. Beratend tätig ist die Behörde auch für Betreuende, Bevollmächtigte und Geheimnisträger, die anonym klären möchten, ob eine Person ein Fall für eine Betreuung ist. Zudem wirbt die Betreuungsbehörde berufliche und ehrenamtliche Betreuer. Eine Aufgabe, die zunehmend schwieriger werde, sagte Dominik Platte, denn: „Durch die Reform ist die Tätigkeit für Betreuer nicht attraktiver geworden.“ Derzeit gebe es in Stuttgart rund 170 ehrenamtliche und knapp 100 hauptberufliche Betreuer. Letztere seien gezwungen, 60 oder mehr Betreuungen zu übernehmen, um davon leben zu können, monierte Konrad Stolz. Das seien viel zu viele, aber er sehe derzeit wenig Chancen, dass die Vergütung angehoben werde.
„Die Reform formuliert sehr große Ziele. Inwieweit diese erreicht und praktisch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten“, war Dominik Plattes Fazit. Der Aufwand für Behörden und Betreuende habe auf jeden Fall stark zugenommen. „Die Idee ist gut“, lautete das Urteil von Konrad Stolz über die Neuerungen, „aber es braucht mehr Personal bei allen Beteiligten. Mit dem jetzigen Personalbestand wird es schwierig, die Reform umzusetzen.“ (anc)