Wenn Mama oder Papa psychisch krank sind: Treff Sozialarbeit über Angebote für betroffene Familien und Kinder
Stuttgart. Wenn Vater oder Mutter psychisch krank sind, leidet darunter auch ihr Kind. Wie müssen Hilfen gestaltet sein, damit sie die Betroffenen erreichen? Wie kann man Kinder stärken? Beim Treff Sozialarbeit der eva am 23. September hat die Sozialforscherin Eva Schmutz wissenschaftliche Erkenntnisse dazu präsentiert, Praktikerinnen haben ihr Vorgehen vorgestellt.
Die Zahl der Kinder, von denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt oder suchtkrank ist, geht in die Millionen. Elisabeth Schmutz vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz hat die Zahlen beim Treff Sozialarbeit konkretisiert: Zwischen drei und vier Millionen Kinder sind betroffen, das ist fast ein Drittel aller Minderjährigen in Deutschland. 2,65 Millionen Kinder wachsen mit einer alkoholkranken Mutter oder einem alkoholkranken Vater auf; die Forschung geht davon aus, dass es zwischen 40.000 und 60.000 Kinder gibt, von denen ein Elternteil drogenabhängig ist.
Offener Umgang mit Krankheit fördert Resilienz der Kinder
Das Risiko, später selbst zu erkranken, ist für diese Kinder deutlich höher. „Vererbt wird aber nicht die Erkrankung, sondern eine höhere Verletzlichkeit“, betont Elisabeth Schmutz, „auch wenn bei psychischen Erkrankungen genetische Faktoren eine Rolle spielen.“ Meistens geht die psychische Erkrankung oder die Sucht einher mit anderen Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, mit Konflikten in der Partnerschaft und sozialer Isolation.
Betroffene Eltern haben oft kein angemessenes Erziehungsverhalten. Sie reagieren gar nicht oder überreagieren und erkennen die emotionalen und sozialen Bedürfnisse ihrer Kinder nicht. Die Einsicht in die eigene Krankheit und ein offener Umgang damit in der Familie ist ein erster Schritt, um die Resilienz der Kinder zu fördern. Dazu kommt die Bereitschaft zu einer Therapie. Wichtig sei auch die Einsicht, die Organisation des Alltags an die Krankheit anzupassen, die eigenen Einschränkungen zu akzeptieren und professionelle Hilfe zuzulassen, sagt Elisabeth Schmutz.
"Aufwind" vermittelt Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern
Kinder psychisch kranker Eltern neigen zur „Parentifizierung“: Sie übernehmen die Rolle der Eltern und versorgen sich und die jüngeren Geschwister. Dem gilt es entgegenzuwirken. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten immer die ganze Familie und ihre Dynamik im Blick haben und sich fragen, ob die Kinder selbst behandlungsbedürftig sind oder ob Maßnahmen des Kinderschutzes eingeleitet werden müssen. Wichtig sei dabei ein kommunales Gesamtkonzept, so die Forscherin, bei der viele Beteiligte kooperieren: Kinder- und Jugendhilfe, Gemeindepsychiatrie, Gesundheitswesen, Suchthilfe und Eingliederungshilfe. Für die Kinder ist es zudem enorm hilfreich, eine verlässliche Bezugsperson zu haben, an die sie sich eigenständig wenden können.
Solche Bezugspersonen vermittelt das Angebot „Aufwind“, das Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern bereitstellt und vermittelt. Die eva-Mitarbeiterinnen Michaela Angerer, Judith Engel, Iris Maier-Strecker, Ulrike Scherer und Kirsten Wolf haben beim Treff Sozialarbeit das Netzwerk bei Aufwind vorgestellt, mit dem sie in Stuttgart gut arbeiten. Es gibt Gruppenangebote für betroffene Kinder und Jugendliche, Familiensprechstunden in der Klinik sowie Angebote, die Kinder und Eltern gemeinsam wahrnehmen können. „In jedem Stadtteil gibt es Lotsen im Hilfesystem, die die Angebote kennen“, so Iris Maier-Strecker. Die sozialräumliche Vernetzung von verschiedenen Anbietern wie Caritas, Pro Kids, Kidstime oder „Verrückt? Na und!“ funktioniert. Einziger Wermutstropfen: Nicht alle dieser Projekte sind regelfinanziert; sie basieren teilweise auf Spenden und sind so nicht dauerhaft gesichert.
Die Mutter von Pascal fasst Vertrauen
Karin Pogadl-Bakan von der Caritas Stuttgart erzählt am Beispiel von Pascal Susa und seiner Mutter, wie die Hilfen greifen (die Namen der Betroffenen sind geändert). Frau Susa leidet an einer bipolaren Störung. Als sie sich zum ersten Mal beim Sozialpsychiatrischen Dienst meldet, ist sie arbeitslos, vom Vater ihres Sohnes lebt sie getrennt. Sie wohnt isoliert im Stadtteil mit ihrem Sohn Pascal, der neun Jahre alt ist, und hat keine familiären Kontakte. Frau Susa kommt alle drei Wochen zum Gespräch.
Nach einem halben Jahr hat sie Vertrauen gefasst und berichtet, dass es ihr oft schwer fällt, morgens aufzustehen und Pascal für die Schule zu wecken. Ihre Erkrankung möchte sie von ihrem Sohn fernhalten. Und sie hat Sorge, Pascal könnte ihr weggenommen werden. In der Beratung wird ihr nahegebracht, mit Pascal über die Krankheit zu sprechen. Sie kann ihm erklären, dass sie starke Medikamente nehmen muss, die sie müde machen. Das Vesper für ihn richtet sie jetzt abends. Den Vorschlag, für Pascal nach einem Paten zu suchen, einer verlässlichen Bezugsperson, nimmt sie an.
Auch bei Krisen der Mutter wird ihr Sohn unterstützt
Ulrike Scherer, zuständig für die Patenschaften bei Aufwind, kommt zum Hausbesuch. Sie macht Frau Susa klar, dass ein Pate keine professionelle Hilfe ersetzen kann. Bei einem zweiten Hausbesuch lernt sie Pascal kennen und fragt ihn, was er gern machen würde: Stuttgart kennenzulernen und Ausflüge zu machen sind seine größten Wünsche. Herr Müller, ein 35 Jahre alter Ingenieur, wird Pascals Pate. Wenn ihn Pascals Verhalten irritiert, meldet er sich bei Ulrike Scherer.
Je älter Pascal wird, desto schwerer fällt es seiner Mutter, ihm Grenzen zu setzen. Deshalb erhält die Familie „Hilfen zur Erziehung“. Bei allen vorbereitenden Gesprächen ist immer eine Aufwind-Mitarbeiterin dabei. Als Pascal zwölf Jahre alt ist, kommt es bei Frau Susa, die mittlerweile wieder in ihrem Beruf als Altenpflegerin arbeitet, zu einer manischen Krise. Sie kommt in die Klinik, erst auf eine geschlossene, dann auf eine offene Station. Pascal wohnt währenddessen in einer Wohngruppe im Stadtteil, der Kontakt zu Herrn Müller besteht weiter. Nach ihrem Klinikaufenthalt wird Frau Susa ambulant betreut. Nach einem Jahr kann Pascal wieder zu ihr ziehen. Entsprechend dem Krankheitsverlauf brauchen Mutter und Sohn weiterhin Hilfen, die die Aufwind-Mitarbeiterinnen vermitteln. Pascal geht jetzt einmal in der Woche zu einem Angebot von „Pro Kids“. (ds)