Neues Projekt der eva für „Systemsprenger“ ist einmalig in Baden-Württemberg
Die jungen Männer kommen zur Beratung für junge Wohnungslose, sobald sie volljährig werden, und wurden vorher oft schon länger nicht mehr unterstützt. Sie sind psychisch krank, suchtkrank und traumatisiert – deshalb können sie nicht in klassische Jugendhilfe-Angebote vermittelt werden. Denn dort halten sie es nicht aus. Und sie sind dort auch selbst nicht (mehr) auszuhalten. Das beobachten sowohl die Mitarbeitenden der Evangelischen Gesellschaft (eva) als auch die des Stuttgarter Jugendamtes. Deshalb haben eva und Jugendamt Ende 2012 gemeinsam ein Projekt für junge Männer gestartet, die bei ihrem Einzug zwischen 16 und 18 Jahre alt sind. Dieses Projekt für sogenannte „Systemsprenger“ ist einmalig in Baden-Württemberg. Es läuft bis Ende 2014 im Johannes-Falk-Haus der eva. Jetzt haben die Beteiligten erste Erfahrungen vorgestellt.
Patrick (Name geändert) hat schon als ganz kleines Kind Dinge erlebt, die selbst Erwachsene schwer verkraften würden: Seine Mutter war heroin- und alkoholabhängig. Er hat sich um sie gesorgt und sich immer gefreut, wenn sie wieder wach geworden ist. Mit fünf kam er ins Heim; als er zwölf war, starb auch sein Vater, der wenig Kontakt zu seinem Sohn gehalten hatte. Pflegefamilie – verschiedene Wohngruppen – eigene Drogensucht – wenig erfolgreiche Entgiftungen: Irgendwann gab es keine Jugendhilfe-Einrichtung mehr, in der Patrick hätte unterkommen können. Angebote für wohnungslose junge Menschen greifen aber erst ab dem 18. Lebensjahr.
Das Verhalten der Jugendlichen wird (aus)gehalten
Patrick hat Glück gehabt, er konnte schon im Juli 2011, mit 17 Jahren und noch vor dem offiziellen Start des neuen Projekts, im Johannes-Falk-Haus einziehen. Hier leben seit der Gründung des Hauses 1955 junge wohnungslose Menschen ab 18 Jahren. Nun können hier – zusätzlich zu den bisherigen 17 Bewohnern im Stammhaus – acht männliche „Systemsprenger“ ab 16 Jahren leben. Damit hat Patrick in erster Linie nicht andere Jugendliche um sich, sondern junge Erwachsene, die älter sind als er selbst und ebenfalls viele Probleme haben.
Im Johannes-Falk-Haus wird zunächst wenig von Patrick und den anderen Jugendlichen erwartet. In den ersten Wochen oder sogar Monaten dürfen die jungen Leute ankommen; ihre Grundbedürfnisse wie Wohnen, Schlafen oder Essen werden befriedigt. Das Verhalten der Jugendlichen wird (aus)gehalten.
Gleichzeitig versuchen die Mitarbeitenden des Hauses, das Vertrauen der jungen Menschen zu gewinnen: Sie verhalten sich konsequent, sind verlässlich und stellen den Menschen nie in Frage, höchstens sein Verhalten: „Du bist in Ordnung, was du tust, ist nicht in Ordnung – danach handeln wir“, berichtet Gerhard Gogel, der Leiter des Hauses. Auf Regelverstöße wird umgehend reagiert – ganz individuell. Zum Beispiel mit Auflagen, die auf die Ursache des Handelns zielen. Bei Patrick war das ein Anti-Aggressionstraining, nachdem er auf einen Mitarbeiter des Hauses losgegangen war.
Die Jugendlichen können daneben Beschäftigungen nachgehen, die zu ihren Interessen passen und die sie auch leisten können. Einsatzmöglichkeiten sind unter anderem die Kreativwerkstatt, ein Tierprojekt, die Holz- und Metallwerkstatt, Hausmeister-Tätigkeiten oder die Küche. Diese Angebote und weitere im Freizeitbereich sowie Beratungsangebote helfen Patrick und den anderen, schulische und berufliche Perspektiven zu entwickeln. Ein offenes Angebot unterstützt die Jugendlichen dabei, sich kritisch mit ihrem Suchtverhalten auseinanderzusetzen.
Erwartungen an die Jugendlichen werden langsam gesteigert
Die Mitarbeitenden des Johannes-Falk-Hauses beobachten, dass die Jugendlichen bereit sind, sich zu verändern, wenn die Erwartungen an sie langsam gesteigert werden – im jeweils individuellen Tempo. Die jungen Menschen bauen ihr Misstrauen ab und können wieder Beziehungen eingehen. Jugendliche, die gewohnt waren, andere zu dominieren, halten sich mit Provokationen und Gewalt zurück, wenn sie mit Älteren in einem Haus leben. „Auch sogenannte `Systemsprenger´ müssen keine hoffnungslosen Fälle sein“, sagt Sabine Henniger, die bei der eva als Abteilungsleiterin das Projekt verantwortet. Regina Quapp-Politz, Abteilungsleiterin im Jugendamt Stuttgart, berichtet, dass die Rückmeldungen der Fachwelt auf das neue Projekt positiv sind: „Der Bedarf an dem neuen Hilfekonzept ist da – das zeigen auch die Anfragen, ob Jugendliche aufgenommen werden können.“ Deshalb ist für sie heute schon klar, dass das Projekt auf jeden Fall erhalten wird, auch wenn es offiziell Ende 2014 endet: „Falls es etwas zu verbessern gibt, werden wir das tun, und das Positive fortführen.“
Für Patrick hat die Zeit im Johannes-Falk-Haus viele Verbesserungen gebracht. Er hat seinen Drogenkonsum reduziert, regelmäßig im Fitness-Raum des Johannes-Falk-Hauses trainiert und schließlich sogar begonnen, dieses Angebot verantwortlich zu leiten. Im Schuljahr 2012/13 hat er als „Gasthörer“ die 9. Klasse wiederholt. Im laufenden Schuljahr besucht er die 10. Klasse der Realschule. Jetzt hat er ein Ziel: die Mittlere Reife.