Schöne neue Welt?
Treff Sozialarbeit: Bei der Digitalisierung die Menschen und ihre Bedürfnisse nicht vergessen
Stuttgart. Die Digitalisierung bestimmt den Alltag immer stärker. Das Smartphone ist zum ständigen Begleiter geworden. Wer einen Vortrag halten oder ein Referat schreiben muss, holt sich Rat bei Künstlicher Intelligenz (KI) wie ChatGPT. Nicht zufällig war die Überschrift beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) mit einem Fragezeichen versehen: „Schöne neue Welt?“. Denn wie in allen Bereichen lauern auch in der „Digitalisierung des Sozialen“ Gefahren, die die Vorteile schnell zunichtemachen können, wenn sie nicht bedacht werden.
Mit dem Begriff „Digitalität“ geht das Thema über technologische Entwicklungen hinaus und bezieht das soziale und kulturelle Umfeld mit ein. Dies wurde aus der Perspektive der Forschung und der Praxis beleuchtet in den Vorträgen von Verena Ketter, Professorin für Medien in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen, sowie von Alexander Dietrich, Referent für Softwaremanagement und Digitalisierung bei der eva.
Beide versuchten Antworten auf die Frage zu geben, wie pädagogische Fachkräfte den Einsatz digitaler Technologie in der sozialen Arbeit sinnvoll nutzen, ohne dass der Mensch und seine Bedürfnisse dabei vernachlässigt werden. Natürlich ergeben sich auch gravierende Veränderungen in den Arbeitsstrukturen und -abläufen. Moderator Daniel Rezanek erinnerte zum Auftakt daran, dass die Soziale Arbeit im Vergleich zu anderen Branchen in punkto Digitalisierung hinterherhinkt.
Obdachlosigkeit wird mit einer VR-Brille anschaulich
Ketter machte deutlich, dass im Zuge der Veränderung von Prozessen „ein neuer Möglichkeitsraum“ entsteht. In ihrer Aufzählung wurde deutlich, in wie vielen Feldern die Digitalisierung schon Einzug gehalten hat. Selbstverständlich geworden sind Videokonferenzen, digitale Dokumentation und Recherche, Kommunikationsplattformen, Dienstplanungen mit digitalen Werkzeugen oder die Nutzung sozialer Medien wie Instagram. Lernplattformen wie „oncoo“ bieten die Möglichkeit zur Gruppenarbeit für Menschen, die im persönlichen Kontakt ihre Schwächen nicht zugeben würden.
Die Hochschullehrerin verwies auch auf innovative Ansätze in der Kinder- und Jugendarbeit. Wer VR-Brillen nutze, könne virtuell in andere Lebenswelten eintauchen. Fluchtgeschichten oder Obdachlosigkeit lassen sich auf diesem Weg anschaulich und begreifbar machen. Nach Angaben Ketters wird im Blick auf Cyber-Mobbing ein eigenes VR-Programm entwickelt.
Erklärvideos für die Wohnungslosenhilfe werden laut Ketter genauso erstellt wie ein digitales Frühwarn-Programm für die Telefonseelsorge. Es schlägt bei bestimmten Signalen Alarm, damit Beratung zielgerichtet weitergeführt wird. Von der automatisierten Kommunikation fühlen sich autistische Kinder angesprochen, weil hier keine Emotionen im Spiel sind. Und eine Software für Fallanalysen und -dokumentation erleichtert die Krankenbetreuung.
Ketter erinnerte daran, dass es in der sozialen Arbeit für alle Beteiligten notwendig ist, Medienkompetenz zu erwerben. Die Wissenschaftlerin warnte davor, nur auf die technische Kompetenz zu achten und damit nur den technischen Entwicklungen hinterherzulaufen. Es gelte, digitale Techniken nach den Grundsätzen von Solidarität, Mitbestimmung oder Gerechtigkeit zu nutzen. Da aus ihrer Sicht digitale Ungerechtigkeit abhängig von Bildung und sozialer Herkunft immer noch weit verbreitet ist, fordert Ketter, sich auch politisch einzumischen. Ihr geht es darum, zu verhindern, dass „ohnehin vulnerable Gruppen vernachlässigt werden“.
Online-Beratung ist auch bei der eva üblich
Auch für Alexander Dietrich, der seit einem Jahr die Digitalisierungsprojekte der eva betreut, gilt es, bei den Veränderungsprozessen die ethische Seite nicht zu vergessen. Neben Schulungen und Fortbildungen sei es immer auch nötig, Ängste von Mitarbeitenden und Klientinnen und Klienten abzubauen und Aufklärungsarbeit zu leisten, sagte er. Dies kann durch organisatorische Maßnahmen, wie auch durch Face-to-face-Gespräche geschehen. Für Menschen, die von der eva betreut werden, gelte es, einen barrierefreien Zugang zur digitalen Welt in Form von Hardware oder verfügbarem WLAN zu schaffen. An die neue Telematik-Infrastruktur müssten nicht nur Ärzte und Apothekerinnen, sondern auch der Pflegebereich angeschlossen werden. Online-Beratung sei schon in einigen Diensten der eva üblich. Datenaustausch mit Partnern müsse sicher geregelt werden. Deshalb ist der Datenschutz bei allen Vorhaben stets zu berücksichtigen.
„Aber egal, was man macht in Bezug auf Digitalisierung, man muss die Menschen miteinbeziehen“, mahnte Dietrich. Man müsse diese fragen, was sie brauchen, „denn sie haben Bedürfnisse und spezifische Anforderungen an digitale Lösungen“. Wenn z.B. ein bestimmtes Tool oder Fachsoftware eingeführt werde, gebe es unterschiedliche Nutzergruppen. Deshalb seien Anforderungsworkshops und der „Mut zum Ausprobieren“ notwendig in seinem Arbeitsalltag. Wichtig ist für Dietrich im Blick auf Trends wie den zunehmenden Einsatz von KI ein „strukturiertes Innovationsmanagement“. (ang)