Traumatisierte Flüchtlinge erhalten bei der Psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene Deutschunterricht und machen Ausflüge
Stuttgart. Eine Fahrt mit dem Bus in den Wildpark Tripsdrill, ein Besuch in einer Stuttgarter Weinstube, ein Nachmittag im Haus der Geschichte: Was sich anhört wie das Programm eines unternehmungslustigen Seniorenkreises ist eine therapiebegleitende Maßnahme. Denn die Frauen und Männer, die mit Jürgen Kindl unterwegs sind, der die Ausflüge organisiert, haben Furchtbares erlebt. Es sind Menschen aus Syrien, Nigeria und dem Irak, die in ihren Herkunftsländern körperlich und seelisch gefoltert wurden oder den gewaltsamen Tod von Angehörigen erleben mussten. Sie alle sind Patientinnen und Patienten der PBV Stuttgart, einem Dienst der Evangelischen Gesellschaft (eva). Die PBV ist ein Zentrum, in dem Überlebende von Gewalt psychologisch und medizinisch beraten und behandelt werden.
„Wir tun unser Bestes, medizinisch, psychologisch und psychiatrisch, damit Seele und Körper dieser schwer traumatisierten Menschen heilen“, sagt der Diplom-Psychologe Dieter David, der Leiter der PBV Stuttgart. Die Ausflüge, die Jürgen Kindl organisiert, seien eine Form der Integration. Denn von Stuttgart und der Umgebung haben die meisten der Patientinnen und Patienten noch nicht viel gesehen, auch wenn sie schon seit Jahren in Deutschland sind. Die Trauma-Patienten leben in der Regel zurückgezogen und isoliert, weil sie Angst vor anderen Menschen haben. Bei den Fahrten entsteht dagegen so etwas wie Normalität. „Ich gehe offen auf sie zu und kümmere mich, damit keiner verloren geht, alle ihre Vespertüte bekommen und die Kinder ein eigenes Programm haben“, sagt Jürgen Kindl, der so pragmatisch wie einfallsreich die Ausflüge plant.
Deutsch-Unterricht findet auch in der Haushaltswarenabteilung eines Kaufhauses statt
Die Stuttgart-Touren sind nicht das einzige, was er als Honorarkraft mit einer kleinen Aufwandsentschädigung für die Trauma-Patienten anbietet. Er trifft sich auch wöchentlich mit einzelnen Patienten, deren Deutsch-Kenntnisse spärlich sind. „Die haben oft so vieles wieder vergessen, was sie im Kurs gelernt haben, weil sie es nicht anwenden“, sagt Jürgen Kindl. Er ist zwar kein gelernter Pädagoge, aber er hat sich eingelesen, wie man Deutsch vermittelt. Kindl arbeitet mit Post-its an der Wand. Dass er als gelernter Architekt gut und schnell zeichnen kann, hilft bei seiner Art von Unterricht ebenso. Der findet nicht nur drinnen, sondern auch bei Ortsterminen statt: In der Haushaltswarenabteilung eines Kaufhauses zum Beispiel. „Es soll ja einen lebenspraktischen Wert haben“, sagt Kindl.
Bei dem Ruheständler geht es nicht um Therapie. Gleichwohl gibt es einen Effekt, wenn die Trauma-Patienten erleben, dass es ein Deutscher gut mit ihnen meint – einfach so. Auch bei den Therapiesitzungen hat Dieter David schon Erstaunliches erlebt: „Manchmal können wir schon nach wenigen Stunden dieses Eins-zu-Eins-Unterrichts auf einen Dolmetscher in der Therapie verzichten.“ Die Scheu, zu sprechen, die Angst vor einer Blamage: Die kann Jürgen Kindl nehmen. Und damit mehr leisten als die reine Sprachvermittlung, meint Dieter David: „Integration bedeutet Wiederherstellen. Und Deutsch reden ist ein Teil von Integration.“ (ds)