„Bin ich schon drin?“, fragte sich Boris Becker 1999, während sein 52k-Modem quäkte, in einem TV-Werbespot für einen Online-Anbieter. Gerade mal 16 Jahre später haben nicht nur nahezu alle 12-Jährigen ein Smartphone, sondern Garagentore und Rauchmelder auch einen WLAN-Anschluss. Wer heute aufwächst, kann sich nicht mehr vorstellen, wie eine Welt ohne WhatsApp & Co ausgesehen hat. Keine Frage: Digitale Medien haben die Lebenswelt von Heranwachsenden so stark verändert wie keine andere technische Entwicklung zuvor. Was bedeutet das für die Arbeit von Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen in der Jugendhilfe? Diesem Thema widmete sich der Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 16. Juli. Referent Aytekin Celik spannte den Bogen von den Anfängen des Internets bis zum Web 4.0 und räumte dabei auch mit so manchem Vorurteil auf.
Wir können uns als Sozialarbeiter in der Jugendhilfe nicht aussuchen, ob wir mit dem Internet arbeiten wollen, sondern nur wie“, sagte Aytekin Celik, Bildungsreferent beim Stadtjugendring Stuttgart und freiberuflicher Medienpädagoge. Auftrag der Sozialen Arbeit sei es schließlich, Menschen zu einem selbstständigen, gelingenden Leben zu befähigen. „Und digitale Medienkompetenz ist heute eine Kulturtechnik wie Lesen und Schreiben.“ Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte sei es daher, Kindern und Jugendlichen einen bewussten Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln.
Aber was bedeutet das in einer Zeit, in der viele Nutzer von Sozialen Medien freiwillig ihre intimsten Daten preisgeben? Wo steuert sie hin, unsere digitale Gesellschaft? Um einen Ausblick darauf zu geben, blickte Aytekin Celik zunächst zurück zu den Anfängen des World Wide Web.
„Bis 1990 war das Internet ausschließlich in den Händen von Informatikern“
Das Internet ist älter als man gemeinhin denkt: Seine Ursprünge hat es in einem Projekt des US-Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 1968. Vor dem Hintergrund eines drohenden Atomkriegs entwickelten Computer-Fachleute ein System, um militärische Daten dezentral speichern zu können. „Bis 1990 war das Internet ausschließlich in den Händen von Informatikern“, so Celik. Ab 1991 etablierte sich dann das Web 1.0 als „Mitlese-Web“. Ziel war es, wissenschaftliche Texte weltweit zur Verfügung zu stellen, wozu das einheitliche Protokoll „http“ und das World Wide Web entwickelt wurden. Selbst Inhalte einzustellen, war zunächst noch Spezialisten vorbehalten, da man hierfür die Auszeichnungssprache HTML beherrschen musste.
Das änderte sich ab 2001 mit dem Web 2.0, dem so genannten „Mitmach-Web“. Durch technische Weiterentwicklungen entstanden Wikipedia, Blogs und in den Folgejahren soziale Plattformen wie Facebook oder YouTube. „Das sind letztlich leere Hüllen, in die die User Inhalte einstellen und so erst mit Leben füllen“, so Celik. Einen weiteren Einschnitt markiert das Jahr 2009, als das Web 3.0 oder das „semantische Web“ seinen Anfang nahm. Seither können Informationen im Internet mit eindeutigen Bedeutungen versehen und so durch Maschinen exakt analysiert werden. Das bedeutet: Roboter, milliardenfach programmiert, durchforsten täglich das World Wide Web, werten Daten aus und fügen sie zu Profilen über User zusammen. Der gläserne Mensch ist seither keine Vision mehr, sondern Realität. „Wenn man allein die Vernetzung mit Freunden analysiert, kann man mit 93-prozentiger Sicherheit die politische Einstellung eines Facebook-Users errechnen“, so Celik. Zu 87 Prozent lasse sich seine sexuelle Orientierung bestimmen. Firmen wie Amazon analysieren auf Grundlage der gesammelten Daten, welches Produkt ein Kunde voraussichtlich als nächstes kaufen wird und bewerben es. Und autoritäre Staaten sind interessiert, welcher Bürger mit hoher Wahrscheinlichkeit politischen Widerstand leisten wird.
Die Zukunft: die sprachbegabte WLAN-Barbie
Doch das Ende ist noch nicht erreicht. „Wir stehen an der Schwelle zum Web 4.0, dem Internet der Dinge“, so Celik. „Das Internet wird unser ganzes Leben durchdringen.“ Nicht nur alle 7,3 Milliarden Menschen können potenziell mit einer IP-Adresse ausgestattet werden, sondern mittlerweile auch Kühlschränke, Kaffeeautomaten etc. Hierfür wurde ein neues IP-System entwickelt – das so genannte IPv6: Dieser neue Standard reicht aus, um jeden Quadratmillimeter der Erdoberfläche mit 665 Billiarden IP-Adressen auszustatten. Eine Zahl, die nicht zu fassen ist. Gebraucht werden die zusätzlichen Internet-Adressen zum Beispiel für Produktionsprozesse, die über eine Internetverbindung automatisch gesteuert werden sollen. Oder aber für die sprechende Barbie-Puppe, die derzeit entwickelt wird: Die „interaktive“ WLAN-Barbie zeichnet alle Gespräche im Kinderzimmer auf. Die Daten werden an den Server des Herstellers geschickt und dort ausgewertet, so dass die Barbie dann auf Fragen des Kindes antworten kann. „So wird die Barbie zur besten Freundin, die natürlich auch Kaufempfehlungen geben kann“, so Celik. Frei nach dem Motto: Sag mal, Laura, willst du Mama und Papa nicht mal fragen, ob ich ein Barbie-Traumhaus haben kann?
Da sehnt sich mancher doch zurück in die analoge Welt, als Kinder noch nicht am Smartphone klebten, sondern – völlig offline – draußen im Wald tobten. Doch die Trennlinie zwischen analoger und digitaler Welt, die auch heute noch gerne gezogen wird, ließ Celik nicht gelten. „Das ist eine Vorstellung von alten Leuten.“ Für Kinder, die nach 2000 geboren wurden, existiere diese Trennung nicht. „Und sie haben Recht“, so Celik. Beides gehe zunehmend ineinander über, beides sei gleichermaßen real.
Zuversicht vermitteln statt Opferschelte
Kinder und Jugendliche gehen heute intuitiv mit den Neuen Medien um. Das bedeute jedoch keineswegs, dass sie immer verstehen, was sie da tun. Wenn etwas schief läuft und zum Beispiel ein Foto in leicht bekleideter Pose öffentlich im Netz kursiert, dann sollten die Erwachsenen richtig reagieren. „Eltern oder Pädagogen sagen dann gerne Sätze wie: Siehst du! Ich hab‘ dir doch gleich gesagt, dass du solche Bilder da nicht einstellen darfst.“ Dies hält Celik für grundfalsch. „Es ist wichtig, den Kindern in dieser Situation beizustehen und Zuversicht zu vermitteln.“ Es müsse klargestellt werden, dass nicht das Opfer Schuld ist, sondern vielmehr diejenigen, die solche Bilder unerlaubt weiterverbreiten. „Opferschelte hat in unserer Gesellschaft leider Tradition“, so Celik. „Wir brauchen hier dringend einen Kulturwandel.“