Treff Sozialarbeit erinnert an den Aufbruch in der Psychiatrie vor 40 Jahren - Systemische Therapie hat auch heute noch Relevanz
Systemisches Denken sollte wieder stärker zur Geltung kommen. Darin waren sich die Expertinnen und Experten beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) einig, der unter dem Titel „Die unendliche und die endliche Psychiatrie - Systemische Ansätze in der Sozialpsychiatrie" stand.
Nicht zufällig wurde der Titel der Veranstaltung in Anlehnung an einen Buchtitel von Jochen Schweitzer gewählt. Die Forschungen des inzwischen verstorbenen Hochschullehrers und Psychotherapeuten waren bahnbrechend: Weg von der Ansicht, dass chronische Zustände „unendlich" sind, hin zur „endlichen" Psychiatrie, die Genesung betont und somit Hoffnung auf ein Leben jenseits der Psychiatrie bietet.
So ist laut Schweitzer eine akute schizophrene Periode biologisch bedingt, aber dass sie chronisch wird, ist äußeren Umständen geschuldet, wie etwa der familiären Situation. Anstatt auf Symptome fixiert zu sein, fühlt sich der Therapeut bei der systemischen Betrachtung nicht mehr verantwortlich für die Lösung, sondern dafür, hilfreiche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Betroffene ihren Weg finden können.
Der Aufbruch in den 1980er Jahren
Erinnert wurde beim Treff Sozialarbeit vor rund 130 Teilnehmenden daran, dass die gemeindepsychiatrischen Einrichtungen der eva vor vier Jahrzehnten in einer großen Aufbruchstimmung entstanden sind: weg von den geschlossenen Anstalten, hin zur Gemeindepsychiatrie. Die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten und der familiäre Kontext kamen in den Blick. Die eva hat damals Pionierarbeit geleistet. Mittlerweile ist das systemische Denken etwas in den Hintergrund gerückt.
Die Expertinnen und Experten der eva möchten das gern ändern – um so auch ein Gegengewicht zu Verfahren zu setzen, die sich vornehmlich an Defiziten orientieren und auf schnelle Lösungen setzen. Die Beschleunigung in der Therapie betrachten Karl-Heinz Menzler-Fröhlich und Iris Maier-Strecker, die die Abteilung Dienste für seelische Gesundheit der eva leiten, mit Sorge. Sie plädieren dafür, Räume für Reflexion und Begegnung zu schaffen, den Dialog mit den Klientinnen und Klienten zu stärken und für Entschleunigung zu sorgen. Heba Khan, Teamleiterin eines Sozialpsychiatrischen Wohnverbundes der eva, ist überzeugt davon, „dass wir eigentlich viel stärker systemisch arbeiten müssten".
200 Mitarbeitende fortgebildet
Professor Jürgen Armbruster, früherer Vorstand der eva, erläuterte, wie unter seiner Federführung in Kooperation mit Schweitzer eine Art „Forschungslabor" entstanden ist. Damals sei nicht nur die Gemeindepsychiatrie entstanden, sondern auch ein gemeinsames Verständnis. Rund 200 Mitarbeitende der eva haben eine Ausbildung in systemischer Therapie durchlaufen. Die Weiterbildung sei damals als Organisationsentwicklung genutzt worden. „Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, was das für eine Revolution war", betonte Armbruster im Rückblick.
Khan erinnerte daran, dass der systemische Ansatz auch seine Grenzen hat, vor allem weil sich die familiären Strukturen verändert und viel mehr Beziehungen sich ins Digitale verlagert hätten. Doch die Nützlichkeit des Ansatzes sei unbestritten. Darauf wies auch Hannes Plieninger hin, der seit zehn Jahren als Heilerziehungspfleger und Psychologe am Rudolf-Sophien-Stift tätig ist. Für ihn kann ein Klinikaufenthalt nur erfolgreich sein, „wenn man das Vorher und Nachher bedenkt". Armbruster plädierte für einen Brückenschlag von systemischer Therapie zu anderen Ansätzen und den Ausbau der Fortbildung. (rl)