Borderline-Patientinnen und Patienten sind anstrengend. Beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) haben sich soziale Fachkräfte darüber ausgetauscht, warum Ausrasten zum Krankheitsbild dazugehört und wie wichtig Distanz ist.
„Es sind Menschen wie wir, aber sie fühlen anders“. Dieses Fazit zieht Sebastian Holler am Ende des jüngsten Treffs Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva). Trotz ÖPNV-Streiks waren mehr als 100 Interessierte zur Veranstaltung zum Thema „Borderline in der Praxis der sozialen Arbeit“ ins Haus der Diakonie in der Stuttgarter Büchsenstraße gekommen, um mehr über „Symptome, Erklärungsansätze und Therapiemöglichkeiten“ zu erfahren. Suchttherapeut Holler, der in der Suchtberatung der eva mit dem Phänomen konfrontiert ist, und seine Co-Referentin Julia Schmelz, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse in Stuttgart, haben das Ziel, die Stigmatisierung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu beenden.
Denn sie wissen, dass es im Umgang mit Betroffenen „höchst anstrengende Beziehungen“ gibt. Soziale Fachkräfte unter den Gästen betonten, dass sie sich nicht zu helfen wissen bei Menschen, „die einen eine Stunde lang anschreien und dann emotionale Nähe wollen“. Ein Wohnheimleiter hat das Gefühl, dass er nichts recht machen kann. Es sei wichtig, sich zu distanzieren, empfiehlt Schmelz. Impulsives Verhalten gehört zu den typischen Symptomen. Das kann zu „wahnsinnig extremen Ausrastern“ führen, sagt die Ärztin.
Hochsensibilität spielt eine Rolle
Die Ursachen sind laut Schmelz nach dem aktuellen Forschungsstand vielschichtig. Zwar hätten viele Betroffene traumatische Erfahrungen gemacht und zum Beispiel sexuellen Missbrauch erfahren oder miterlebt. Dies sei jedoch noch kein ausreichendes Kriterium. Erkranken kann man ohne Schockerfahrung. Als genetische Disposition werde die Hochsensibilität gesehen, erklärt Schmelz. Der Grund sind nicht unbedingt Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen. Manchmal genügt es, wenn das Kind nicht genug umsorgt fühlt. Bei Betroffenen zeigen sich Veränderungen im Gehirn.
Genauso komplex wie die Ursachen ist das Krankheitsbild, das als emotionales Chaos beschrieben wird. Dazu gehören fehlende Gefühlskontrolle, instabile Beziehungen, Selbsthass, Suizidgedanken, ständige innere Anspannung, die zu Selbstverletzung führen kann. Psychosen können ebenso auftreten. Laut Diagnostik müssen fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um von einer Erkrankung zu sprechen. „Es gibt keine klaren Regeln“, sagt Schmelz. Bis vor zwei Jahren durfte man nach ihren Angaben Borderline erst ab 18 diagnostizieren. Doch es habe sich gezeigt, dass auch Kinder und Jugendliche betroffen sind.
Folgen des Verhaltens verstehen
Zum Bedauern der Referenten gibt es in Stuttgart fast keine Therapieplätze. Stationär nur im Robert-Bosch-Krankenhaus, ambulant bei Schmelz. Die Therapie kann nach ihrer Einschätzung im Gegensatz zu früheren Annahmen Patienten heilen. Sie empfiehlt, verschiedene Ansätze zu verbinden und nicht nur auf die gängige dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) zu setzen. Sie besteht auf klare Regeln in „einer höchst strukturierten Therapie“. Die Patienten müssten lernen, die Folgen ihres Verhaltens zu verstehen. „Das können sie nicht vorhersehen“.
Wenn eine junge Frau Abitur machen will, aber mit Lehrern ständig Streit hat, passe das nicht zusammen. Auch mit sozialen Rollen kommen viele Erkrankte nicht zu recht. Wenn es zu schwierig werde, blockieren sie durch Dissoziation, die sofort gelöst werden müssse, so Schmelz. Sie bietet auch Gruppen für Mütter von Betroffenen an und Telefoncoaching für Patienten.
Infos bietet die von Fachkräften der eva initiierte Austausch-Plattform zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften: www.trialog-stuttgart.de.