Die Orientierungsberatungsstelle schließt Lücken im Hilfesystem
Stuttgart. Wirtschaftsstarke Standorte wie die Region Stuttgart üben eine starke Anziehungskraft auf Menschen aus, die aus ärmeren Ländern kommen und hier nach einer Lebensperspektive suchen. Insbesondere Arbeitsmigranten aus Osteuropa scheitern aber oft an den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und landen auf der Straße. So wie Rafael Polanski (Name geändert), Schlosser-Mechaniker aus Polen. Um den Betroffenen zur Seite zur stehen, hat die Evangelische Gesellschaft (eva) im März 2016 zusammen mit dem Caritasverband für Stuttgart die Orientierungsberatungsstelle eingerichtet. Diese ist landesweit die einzige Einrichtung, die sich nur an neuzugewanderte, wohnungslose Unionsbürgerinnen und -bürger richtet. Finanziert wird sie durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP). Die Förderung des Projektes endet zum 31. Dezember 2018.
Rafael Polanski ist 28 Jahre alt, als er sich entschließt, seine polnische Heimat zu verlassen und sein Glück in Deutschland zu versuchen. Wenige Monate zuvor, im Mai 2004, waren zehn Länder der Europäischen Union beigetreten, darunter auch Polen. In Deutschland angekommen, findet der gelernte Schlosser-Mechaniker zunächst schnell Arbeit auf Baustellen und in verschiedenen Betrieben. Sein Leben scheint sich zum Besseren zu wenden. Doch im Zuge der wechselhaften Wirtschaftslage wird er meist nur kurze Zeit beschäftigt, oft verliert er mit dem Job auch die Unterkunft. Er landet auf der Straße, wo er für lange Zeit in Armut und Verzweiflung lebt.
In dieser Zeit wendet sich Rafael Polanski erstmals an die Orientierungsberatungsstelle. Der Kontakt kommt über die Zentrale Notübernachtung in Stuttgart zustande, in der er an einem kalten Wintertag Schutz sucht. Da er zu diesem Zeitpunkt keine Arbeit und auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat, darf er dort nicht länger als eine Nacht bleiben. Obwohl diese Praxis umstritten ist, hält die Landeshauptstadt Stuttgart an der Regelung fest. Nur solche Menschen sollen länger in der Notübernachtung bleiben dürfen, die regulär Sozialleistungen beziehen. Die Folge davon ist, dass viele Betroffene durch das Raster der Hilfesysteme fallen, so auch Rafael Polanski.
An diesem Punkt setzt die Orientierungsberatungsstelle für besonders benachteiligte Unionsbürgerinnen und -bürger an. Sie hat eine Brückenfunktion in die bestehenden Hilfesysteme und ergänzt das ausdifferenzierte Angebot der Stuttgarter Wohnungsnotfallhilfe, erklärt der eva-Bereichsleiter Peter Gerecke. Ziel der niederschwelligen Beratung ist es, die Betroffenen über bestehende Hilfen, zuständige Behörden sowie passende Angebote zu informieren. Zusätzlich werden über eva´s Stiftung finanzielle Mittel bereitgestellt, um Essensmarken, Fahrkarten und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs als Direkthilfen ausgeben zu können. Die meisten Klientinnen und Klienten werden von anderen Stellen weitervermittelt, etwa von Notübernachtungen, Fachberatungsstellen oder der Bahnhofsmission.
Die Beratungsgespräche werden inzwischen in Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Spanisch und Russisch angeboten. Bei Bedarf können über Mitarbeitende aus anderen Bereichen weitere Sprachen abgedeckt werden. Dominik Kladt, der in der Orientierungsberatungsstelle arbeitet, berichtet: „Es spricht sich immer mehr herum, dass es uns gibt.“ Dass es gelungen ist, mit der Einrichtung eine Lücke im bestehenden Hilfesystem zu schließen, belegen auch die Fallzahlen. In der Startphase im Jahr 2016 wurden von den Mitarbeitenden der Orientierungsberatungsstelle 275 Menschen beraten, begleitet und unterstützt. Im Jahr 2017 ist diese Zahl bereits auf 450 Fälle angestiegen. Für die nächsten Monate wird von den Beteiligten ein weiterer Anstieg erwartet. Gerade im Winter brauchen mehr Menschen Unterstützung und Hilfe.
Um an die erfolgreiche und notwendige Arbeit der vergangenen Jahre anknüpfen zu können, haben eva und Caritas für die anstehende EHAP-Förderrunde ein neues Projekt geplant: Die Zentrale Anlaufstelle für neuzugewanderte Unionsbürger Stuttgart, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Einen Förderantrag für die Jahre 2019 und 2020 haben die Kooperationspartner gestellt. Das neue Projekt richtet sich nicht mehr nur an alleinstehende Menschen, sondern auch an Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigte und ihre Kinder im Vorschulalter.
Bisher sind die meisten Beratenen der Orientierungsberatungsstelle, rund 75 Prozent, Männer. So wie Rafael Polanski. Kürzlich hat er wieder Hoffnung geschöpft: Er hatte nicht nur Arbeit gefunden, sondern befristet auch eine Unterkunft in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen. Leider hat er sowohl die Arbeit als auch die Unterkunft verloren, im Moment wohnt der in der Zentralen Notübernachtung. Dort darf er bis zu sechs Monate lang bleiben, weil er dafür lange genug Sozialabgaben gezahlt hat. Das ist auch wichtig für ihn, um wieder eine Arbeit zu finden, denn „auf der Straße, wenn ich im Park auf einer Bank schlafe, bin ich schmutzig. Dann gibt mir niemand Arbeit.“
Inzwischen ist Stuttgart für den heute 42-Jährigen seine neue Heimat geworden, die er aus vielen Blickwinkeln kennt. Er möchte hier bleiben, ist aber wieder auf der Suche nach Arbeit und einer langfristigen Unterkunft. Er ist froh, dass er für die Arbeitssuche über die Orientierungsberatungsstelle eine Postadresse hat. Für die Zukunft hat Rafael Polanski vor allem einen Wunsch: Ein ganz normales Leben zu führen.