Jeder fünfte Anrufer bei der Stuttgarter Telefonseelsorge fühlt sich allein – 2018 gab es über 36.800 Telefonate – Junge Menschen nutzen zunehmend Chat und Mail
Stuttgart. „Ich bin einsam“ – das hat jeder Fünfte gesagt, der die beiden Stuttgarter TelefonSeelsorge-Stellen 2018 erreicht hat. Weit mehr der Frauen und Männer, die sich in über 36.800 Anrufen gemeldet haben, leiden darunter, einsam zu sein. Denn auch hinter Heimweh, Liebeskummer oder Depression steckt oft das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Das kann leise und stumm machen. Oder auch laut und wütend. Junge Menschen macht es oft sprachlos: Sie rufen gar nicht an, sondern lassen sich über Mail oder Chat beraten.
Eine junge Frau leidet nicht nur unter dem, was ihr zugestoßen ist. Sie weiß auch nicht, mit wem sie darüber reden könnte. In ihrer Mail an die TelefonSeelsorge steht: „Ich habe Schlimmes erlebt und versucht, alles einfach zu vergessen. Ich habe keine Kraft mehr und weiß nicht, was ich machen soll. Meine Eltern und Freunde sind weit weg und ich bin hier irgendwie ganz allein.“
Einsamkeit tut weh. Sie ist wie Schmerz, sagen die Neuropsychologen, weil dieselben Hirnareale aktiviert werden. Auch mit Hunger ist sie vergleichbar, denn es fehlt am Lebensnotwendigen: an sozialen Beziehungen. Bei der jungen Frau löst das Gefühl Lebensmüdigkeit aus: „Ich denke daran, dass es besser wäre, tot zu sein.“
Einsamkeit trotz aller Freundschaften bei den „social media“? „In unserer durchoptimierten Gesellschaft besteht kein Raum für Negatives und Belastendes“, erklärt Martina Rudolph-Zeller, die Leiterin der evangelischen „TelefonSeelsorge Stuttgart“. „Die schöne, aber vereinzelte Welt bietet hier wenig.“ Dafür verändere das Smartphone das Mediennutzungsverhalten der jungen Menschen: „Das Telefonieren tritt in den Hintergrund – als eine Anwendung von sehr vielen.“
Das zeigt sich in den immer häufigeren schriftlichen Kontakten der TelefonSeelsorge. Im Jahr 2018 haben 19 Ehrenamtliche der „TelefonSeelsorge Stuttgart“ 136 Ratsuchende in zum Teil längeren Mailverläufen begleitet. Gemeinsam mit sieben weiteren Ehrenamtlichen der katholischen Stelle „Ruf und Rat“ haben sie daneben insgesamt 992 Chatberatungen durchgeführt.
Die Zahlen der schriftlichen Beratungen am Computer steigen seit zwanzig Jahren – seitdem bietet die TelefonSeelsorge sie an. Die Beratung am Telefon bleibt allerdings der Schwerpunkt. „Allein im Jahr 2018 haben 187 Frauen und Männer sich bei den beiden TelefonSeelsorge-Stellen engagiert – rund um die Uhr“, berichtet Bernd Müller, der stellvertretende Leiter von Ruf und Rat. „Insgesamt waren sie 25.626 Stunden für Menschen in Krisen und persönlichen Notlagen da.“
Dazu gehörte zum Beispiel der Witwer, der sein Alleinsein mit Alkohol ertränkt, weil er im angetrunkenen Zustand seinen Schmerz nicht fühlt. Er hat sich bei der TelefonSeelsorge gemeldet, weil er sich in einer immer schneller werdenden Abwärtsspirale gesehen hat. Oder die Frau, die mit ihren Nachbarn nicht zurechtkommt, hinter jeder Geste und hinter jedem Blick Abwertung spürt. Sie fauchte ihre Wut ins Telefon.
„Einsame Menschen verlieren manchmal die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und neigen dazu, ihrer Umwelt mit großem Misstrauen zu begegnen“, sagt Bernd Müller. Menschen, die bei der TelefonSeelsorge anrufen, fühlten sich oft als Opfer, unfreiwillig ihrer Lebenssituation ausgeliefert. „Gerade junge Menschen erleben emotionale Krisen heftig und haben noch nicht viele Lösungsmodelle in ihrem Erfahrungsschatz sammeln können“, erläutert Martina Rudolph-Zeller. „Ratschläge geben die Ehrenamtlichen am Telefon allerdings prinzipiell nicht.“ – „Doch sie können mit ihrem Zuhören und ihren Rückfragen die bedrohliche Einsamkeit oft lindern“, so Bernd Müller.
Info
Die TelefonSeelsorge ist an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr kostenlos erreichbar: Die evangelische TelefonSeelsorge Stuttgart unter 0800.111 0 111, die katholische Stelle
Ruf und Rat unter 0800.111 0 222.
Termine für die Chatberatung können über die Homepage der TelefonSeelsorge unter online.telefonseelsorge.devorab bei einem Ehrenamtlichen „gebucht“ werden.