Im Christoph-Ulrich-Hahn-Haus leben seit 50 Jahren Menschen in Wohnungsnot
Stuttgart. Sandra Mosel (Name geändert) hat dunkle Zeiten hinter sich. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihre Arbeit und die Wohnung verloren. Ihre tiefe Trauer versuchte sie mit Hilfe verschiedener Suchtmittel zu verdrängen: Heroin, Cannabis, Medikamente und Unmengen hochprozentigen Alkohols wurden ihre täglichen Begleiter. Schließlich wurde sie obdachlos, es zog sie von Heilbronn in die anonymere Großstadt Stuttgart. Nach einer Odyssee an stationären Aufenthalten und Entgiftungen ist die inzwischen 52-Jährige im vergangenen Herbst im Christoph-Ulrich-Hahn-Haus eingezogen. Sie und die 63 anderen Bewohnerinnen und Bewohner haben jetzt mit den 35 Mitarbeitenden und geladenen Gästen das 50-jährige Jubiläum des Wohnheims gefeiert.
Seit 1968 bietet die Evangelische Gesellschaft (eva) im Christoph-Ulrich-Hahn-Haus in Stuttgart-Freiberg Wohnheimplätze für zuvor wohnungslose Personen an. Nach wie vor ist das Haus dringend nötig – in Zeiten fehlenden Wohnraums mehr als in manchen Jahren zuvor. Und es sei „ein besonderer Ort“, betonte Gabriele Reichhardt, stellvertretende Leiterin des Sozialamts Stuttgart, in einem Grußwort bei der Feier. Denn das Haus mache Angebote für Menschen mit ganz unterschiedlichen Hilfsbedarfen.
In den fünfzig Jahren, die seit der Gründung vergangen sind, wurden diese Angebote immer wieder geändert und ergänzt. Zunächst lebten 90 Männer in dem Haus, meist in Doppelzimmern. Sie sollten wieder auf dem normalen Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder auf dem zweiten Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Wer damals hier leben wollte, musste bereit sein, an der Überwindung seiner besonderen sozialen Schwierigkeiten mitzuwirken. Und er musste bis 1988 täglich mindestens acht Stunden in der Werkstatt des Hauses arbeiten können.
Die Zahl der Bewohner wurde später reduziert, seit Mitte der neunziger Jahre gibt es in dem Haus 64 Einzelzimmer. Im Dezember 1996 wurde die Krankenpflegestation eröffnet. Hier können seitdem zehn Bewohner betreut werden, die sonst nach einem Krankenhausaufenthalt auf der Straße gelandet wären. Mit der Eröffnung der Krankenpflegestation gab es eine weitere Neuerung: Bis 1996 wohnten nur Männer im Haus. Nun wurden auch Frauen aufgenommen, weil es ein solches Angebot bis dahin weder für Männer noch für Frauen gab. In den folgenden Jahren wurden in den anderen Bereichen ebenfalls Frauen aufgenommen, vereinzelt auch Paare.
Manche Bewohner der Krankenpflegestation hatten nur noch eine kurze Lebenserwartung. Immer wieder verstarben Bewohner, manche davon direkt im Christoph-Ulrich-Hahn-Haus. Die Mitarbeitenden des Hauses informierten sich deshalb beim Stuttgarter Hospiz über die Themen Sterbebegleitung, Trauer und Tod. Und sie bauten einige Jahre später gemeinsam mit Bewohnern auf dem Gelände des Hauses einen Ort der Erinnerung: eine Kapelle, die 2006 eingeweiht wurde. Zu den Trauerfeiern des Christoph-Ulrich-Hahn-Hauses gehört noch heute ein Gang zur Kapelle, wo Täfelchen mit dem Namen des verstorbenen Bewohners in einen Gedenkstein eingesetzt werden können. So bleibt die Erinnerung an die Bewohner erhalten, auch wenn sie oft anonym beerdigt werden.
Schon vor dem Bau der Kapelle wurde ein neues Angebot eingeführt. Seit 2001 sind 20 der 64 Wohnplätze für Chronisch Mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke (CMA) vorgesehen. Diese sind chronisch von Suchtmitteln abhängig und haben dadurch schwere körperliche und oft auch psychische Probleme. Rasch war klar: ein Zimmer ist für die Bewohner des CMA-Bereiches wichtig. Doch um eine Chance zu haben, die Sucht zu überwinden, ist daneben auch eine Beschäftigung nötig, die den Tag strukturiert. Eine Arbeit auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt ist für die CMA-Bewohner nicht möglich. Deshalb wurde im gleichen Jahr die tagesstrukturierende Beschäftigung eingeführt.
Sie bietet vielfältige Tätigkeiten an: in einer ergotherapeutischen Werkstatt werden Holz- und Tonprodukte hergestellt; dazu kommen Arbeiten im Haus und im Garten sowie in einem Kleintiergehege. Die Beschäftigung motiviert die Teilnehmenden dazu, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Und sie lässt sie erfahren, wie es sich anfühlt, wertgeschätzt und anerkannt zu sein.
Auch Sandra Mosel lebt im CMA-Bereich und arbeitet in der Tagesstruktur. Inzwischen hat sie wieder Vertrauen in sich selbst gewonnen. Sie schläft gut und hält tapfer an ihrem Ziel fest, abstinent zu leben. Was ihr dabei hilft? „Regelmäßigkeit und Rhythmus“, sagt sie. „Gemeinsame Mahlzeiten, Arbeitstherapie mit vielerlei Möglichkeiten, viele Extra-Angebote wie Suchtgruppen unter psychologischer Leitung. Ich weiß, dass ich morgen um diese Zeit an meinem Arbeitsplatz in der Holzwerkstatt erwartet werde. Das tut unheimlich gut.
Viele Veränderungen hat das Christoph-Ulrich-Hahn-Haus hinter sich, die nächste steht an. Die 20 stationären Plätze für Bewohner im CMA-Bereich entsprechen nicht den Anforderungen der geltenden Landesheimbauverordnung. Deshalb plant die eva auf dem derzeitigen Parkplatz des Hauses einen Neubau. Dort soll auch die ergotherapeutische Werkstatt untergebracht werden.
Eines ist in dem Haus in 50 Jahren gleich geblieben und soll auch so bleiben: „Das Ziel unserer Arbeit ist, die Armut zu bekämpfen, nicht die Armen“, sagte bei der Jubiläums-Feier Hartmut Klemm, der das Haus seit 24 Jahren leitet. Das habe auch schon der Gründer der eva so gesehen, nach dem das Haus benannt ist: Pfarrer Christoph Ulrich Hahn. Prof. Jürgen Armbruster, Vorstand der eva, betonte: „Menschen vorbehaltlos anzunehmen – dafür steht das Christoph-Ulrich-Hahn-Haus."