Beim Treff Sozialarbeit der eva am 14. Juli haben Experten der Evangelischen Gesellschaft über ihre Erfahrungen mit der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen berichtet.
Stuttgart. Die Zahlen machen deutlich, wie groß die Not teilweise ist und wie gewaltig die Herausforderung, die es derzeit im ganzen Land zu bewältigen gilt: 14.125 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UmF) waren bundesweit zum Stichtag 31. Dezember 2014 registriert. Ein Jahr später, Ende 2015, waren bereits mehr als 60.000 vor Krieg und Verfolgung geflüchtete Kinder und Jugendliche statistisch erfasst worden. Im laufenden Jahr steigen die Zahlen zwar nicht mehr ganz so sprunghaft an, die Kurve zeigt aber dennoch weiter nach oben. Aktuell werden bundesweit knapp 69.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch die Kinder- und Jugendhilfe betreut. „Dieser enorme Anstieg hat sich drastisch auf unsere Arbeit ausgewirkt und viele Abläufe auf den Kopf gestellt“, sagt Regine Esslinger-Schartmann.
Die Interkulturelle Trainerin und Bereichsleiterin der Evangelischen Gesellschaft (eva) hat am 14. Juli beim Treff Sozialarbeit zusammen mit ihrem Kollegen Jörn Reusch auf ein bewegtes Jahr in der Flüchtlingshilfe zurückgeblickt, das für die zuständigen Einrichtungen in vielfacher Hinsicht eine Bewährungsprobe war und sie an ihre Grenzen gebracht hat. Teilweise hätten sie nicht mehr gewusst, wie das alles zu bewältigen ist und wo die jungen Menschen noch untergebracht werden können, erzählt die Sozialpädagogin, die schon seit 24 Jahren bei der eva arbeitet. In der Hochphase seien im Land pro Woche bis zu 40 junge Flüchtlinge angekommen, „die irgendwo aufgenommen und betreut werden mussten“.
"Die Jugendlichen waren plötzlich in großer Zahl da"
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, je nach Region auch „Unbegleitete minderjährige Ausländer“ (UmA) oder „minderjährige unbegleitete Flüchtlinge“ (MUFL) genannt, haben bei entsprechender Bedarfsfeststellung Anspruch auf Inobhutnahme durch das Jugendamt, einen persönlichen Vormund sowie die Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Alleine im Rems-Murr-Kreis, in dem Regine Esslinger-Schartmann unter anderem als Bereichsleiterin die Vermittlung junger Flüchtlinge in Gastfamilien verantwortet, ist binnen eines Jahres die Zahl dieser jungen Menschen von 72 auf aktuell knapp unter 300 angestiegen. Damit verbunden war die zügige Eröffnung einiger neuer Unterkünfte im Landkreis wie etwa einer Wohngruppe im Schorndorfer Stadtteil Schornbach mit zehn Plätzen oder dem Schullandheim Mönchhof bei Kaisersbach, das zur UmF-Unterbringung mit bis zu 52 Plätzen umgebaut wurde. Das übliche Vorgehen sei, eine Konzeption für neue Wohngruppen zu erstellen, den Antrag auf Betriebserlaubnis auf den Weg zu bringen sowie die Leistungen und die finanziellen Aspekte zu verhandeln, bevor eine neue Einrichtung in Betrieb genommen wird, so die Sozialpädagogin. Dieser Ablauf sei durch die neue Situation und den hohen Zeitdruck aber völlig auf den Kopf gestellt worden: „Die Jugendlichen waren plötzlich in großer Zahl da und wir hatten keinen Platz für sie.“
Verschärft hatte sich die Situation im vergangenen Jahr insbesondere auch durch eine Gesetzesänderung zur bundesweiten Umverteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die zum Stichtag 1. November 2015 in Kraft getreten ist. Seither werden junge Menschen ohne Begleitung wie Erwachsene über eine Quotenregelung verteilt, den so genannten Königsteiner Schlüssel. Zuvor hatte nur ein kleiner Teil der etwa 600 Jugendämter in Deutschland unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen. Als Folge mussten nun aber auch all jene Kommunen, die seither keine UmF-Plätze zur Verfügung gestellt hatten, in vergleichsweise kurzer Zeit die notwendige Infrastruktur schaffen – von geeigneten Aufnahmeeinrichtungen über Bildungsangebote bis hin zu Therapiemöglichkeiten. Die Rahmenbedingungen und Standards in diesem Bereich hätten sich dadurch enorm verändert, betont Regine Esslinger-Schartmann.
Aus Platzgründen sind im Rems-Murr-Kreis nun beispielsweise 10er-Wohngruppen mit Doppelzimmern üblich. Zudem würden die jungen Menschen zwischenzeitlich meist ohne ein vorheriges Clearing aufgenommen werden. Es werde lediglich noch das Alter ermittelt, so die eva-Expertin. Zu den neuen Gegebenheiten gehört zudem auch, dass für die Betreuung und Begleitung der minderjährigen Flüchtlinge verstärkt auch „geeignete Nichtfachkräfte“ eingesetzt werden, worin Jörn Reusch einen der Vorteile des neuen Systems sieht. Diese neuen Mitarbeiter, die teilweise selbst aus arabischen Ländern stammen, könnten wichtige Kompetenzen und Kenntnisse einbringen, die im Alltag und beim gegenseitigen Verstehen enorm helfen würden, so Reusch, der unter anderem als Systemischer Coach arbeitet und Leiter der AG Jungenarbeit bei der eva ist. „Unter den alten Rahmenbedingungen und Vorschriften hätten wir diese Menschen nicht engagieren können“, betont er.
"Die Personalsuche wird zunehmend schwierig"
Insgesamt 50 neue Mitarbeiter sind für die verschiedenen UmF-Einrichtungen der eva im Rems-Murr-Kreis zwischen Juli 2015 und Juli 2016 eingestellt worden, darunter viele Berufsanfänger und eben so genannte Nichtfachkräfte. „Die Personalsuche wird zunehmend schwierig“, betont Reusch. Gleichzeitig seien die Anforderungen an die Fachkräfte, die teilweise traumatisierte junge Menschen betreuen müssten, ganz enorm, so Reusch. Einerseits benötigen sie ein hohes spezifisches Wissen über das Asyl- und Ausländerrecht, über Herkunftsländer, Fluchtwege und die Beweggründe. Gleichzeitig müssten sie auch interkulturelle Kompetenzen mitbringen und die eigene Kultur vermitteln können, so Reusch.
Genau darin, in der gegenseitigen Vermittlung der jeweiligen kulturellen Konventionen und Bräuche, sieht der Sozialpädagoge eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft. 95 Prozent der minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland seien Jungs, die vielfach von ihren Familien nach Deutschland geschickt werden, erzählt er. „In der arabischen Gesellschaft haben junge Männer die Rolle des Familienernährers.“ Dieses Rollenbild sei ihnen fest zugeschrieben. Wenn diese jungen Männer dann in Deutschland ankommen und feststellen, dass es das System hier zunächst gar nicht zulässt, dass sie arbeiten können, um ihre Familie mit Geld zu unterstützen, berge das ein großes Konfliktpotential. In arabischen Ländern werde vielfach ein Bild von einem Deutschland verbreitet, in dem es allen gut geht, alle in Wohlstand leben und man vom ersten Tag der Ankunft an einen hoch angesehenen Job bekommt. „Auf den Jugendlichen lastet dann ein enorm großer Druck, wenn sie merken, dass sie ihre Familien nicht unterstützen und die Erwartungen nicht erfüllen können, betont Reusch.
Viele Missverständnisse und Konflikte, davon ist der erfahrene Sozialpädagoge überzeugt, haben ihren Ursprung in den unterschiedlichen Rollenbildern der verschiedenen Kulturen. Umso wichtiger sei es für die Zukunft, mehr voneinander zu erfahren, zu verstehen, warum sich ein junger arabischer Mann beispielsweise mit Küchenarbeit schwer tut oder als Friseurlehrling unter keinen Umständen Frauen die Haare schneiden oder die Augenbrauen zupfen will. „Dafür würde er nach seinem Verständnis keine Anerkennung erfahren, weil das in seinem Kulturkreis nicht üblich ist“, so Reusch. Hier würde ein solches Verhalten dann wiederum als Verweigerungshaltung oder Lustlosigkeit interpretiert werden, oft verbunden mit einer Ablehnung. Um solche Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, müsse man mehr voneinander wissen, so Reusch, „um aus diesem Verständnis heraus Konzepte und Wege für die Zukunft abzuleiten“.
"Wir sind besser aufgestellt als vor einem Jahr"
Eine zuverlässige Prognose abzugeben, wie sich die Arbeit in diesem speziellen und sensiblen Bereich der Flüchtlingshilfe weiter entwickeln wird, sei momentan schwierig. Die Zahlen würden derzeit wieder leicht ansteigen, vieles sei von weiteren politischen Entscheidungen abhängig, betont Regine Esslinger-Schartmann. „Wir wissen nicht, ob neue Fluchtwege entstehen oder vielleicht mehr Flüchtlinge aus Afrika kommen.“ Die Grundlagen für die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen seien jedenfalls geschaffen worden. „Wir sind besser aufgestellt als vor einem Jahr und es sind wichtige Netzwerke entstanden. Wir kennen die Bedarfe und wissen etwa, was auf uns zukommt“, sagt auch Jörn Reusch. Wichtig sei nun, Wege der Integration über Schule, Beruf und Ausbildung zu erschließen und auszubauen sowie die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern wie dem Arbeitsamt, den Betrieben und Schulen weiter zu intensivieren, wie der Experte betont: „Viele dieser Jugendlichen, um die wir uns heute kümmern“, so Jörn Reusch, „werden für lange Zeit oder für immer Teil unserer Gesellschaft bleiben.“ (hef)