Bundesweit älteste individuelle Assistenz für Menschen mit Unterstützungsbedarf wurde während der Pandemie 50 – im November läuft Themenwoche auf Instagram-Kanal der eva
Stuttgart. Ein Badeunfall – eine Querschnittslähmung – ein drohender Aufenthalt im Pflegeheim mit 20 Jahren: Was als persönliches Drama begonnen hat, war der Auftakt zur bundesweit ältesten individuellen Assistenz für Menschen mit Unterstützungsbedarf. 2020 bestand die Individuelle Schwerbehindertenassistenz der Evangelischen Gesellschaft (eva) seit fünfzig Jahren, wegen der Pandemie wurde das Jubiläum nicht gefeiert. Nun gibt es eine Themenwoche auf dem Instagram-Kanal der eva; sie läuft vom 2. bis 9. November. Sie stellt einen der 53 Assistenznehmerinnen und -nehmer vor, die heute rund um die Uhr betreut werden. Und daneben eine seiner Assistentinnen; diese ist eine von etwa 200 Frauen und Männern, die an sieben Tagen der Woche Menschen mit Behinderung assistieren. Am letzten Tag der Themenwoche, am Dienstag, 9. November, gibt es um 17 Uhr ein Live-Interview mit der Bereichsleiterin der Schwerbehindertenassistenz, Birgit Frieß, und ihrem Stellvertreter Jürgen Beißwenger. Alle Beiträge können auch im Nachhinein unter https://www.instagram.com/eva_stuttgart abgerufen werden.
Begonnen hat alles mit Manfred Schütze. Er war nach einem Badeunfall vollständig gelähmt und wollte nicht – wie damals üblich – in einem Altersheim wohnen, umgeben von Pflegebedürftigen, die seine Großeltern hätten sein können. Er wollte selbstbestimmt leben und hat dafür gekämpft. Nach langwierigen Verhandlungen erhielt er einen Termin bei Walter Arendt, dem damaligen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Der machte den Weg frei für ein Erfolgsmodell: „Wenn Sie jemand finden, der den Ersatzdienstleistenden verwaltet, dann können wir das so machen“, habe Arendt gesagt, hat Schütze später berichtet. Manfred Schütze hat jemand gefunden: Die eva hat für ihn Ersatzdienstleistende organisiert, sodass er bis zu seinem Tod 2003 selbstbestimmt wohnen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben konnte.
In 50 Jahren wurden 220 Menschen von etwa 2.000 Assistenzkräften unterstützt
Manfred Schütze war der erste Mensch mit schweren körperlichen Einschränkungen, der von der Individuellen Schwerbehindertenassistenz (ISA) betreut wurde, bald kamen weitere hinzu. In über fünfzig Jahren wurden bis heute schätzungsweise 220 Menschen unterstützt – von insgesamt etwa 2.000 Assistenzkräften. Das Modell ist nach mehr als einem halben Jahrhundert immer mehr in den Köpfen, im Bundesteilhabegesetz und in der Pflegeversicherung angekommen.
Ein Qualitätsstandard gilt seit Beginn, „der ist vermutlich einzigartig in der Welt der Pflegebedürftigkeit“, so Gabi Kurzenberger, die die ISA bis 2020 geleitet hat: Die Assistenznehmenden der ISA entscheiden selbst, „wer nachts um 4 Uhr durch ihr Schlafzimmer läuft“. Denn Assistenznehmende und Assistenzkräfte müssen zusammen passen.
Immer wieder neue Verordnungen und Gesetzesänderungen
Die richtigen Menschen zusammenzubringen ist nur eine der Aufgaben des heute sechsköpfigen Teams, das die Einsätze koordiniert. Dazu kamen im Lauf der Jahrzehnte Gesetzesänderungen: Der Wehrdienst und damit der Zivildienst wurden abgeschafft; heute arbeiten die Assistenzkräfte als Honorarkräfte, als Freiwilligendienstleistende oder auf einer anderen tariflichen Basis hier. Immer wieder gab es neue Verordnungen oder auch Änderungen des Sozialversicherungs- und des Arbeitszeitgesetzes.
Auch der Alltag der Assistenznehmenden sowie der Männer und Frauen, die ihnen assistieren, hält stets Überraschungen bereit. Da kann jemand seinen Dienst nicht antreten, weil er krank geworden ist, weil sein Uniprofessor die Prüfungs- und Vorlesungszeiten verändert, die Oma doch nicht am Geburtstag feiert, sondern am geplanten Dienstwochenende. Doch ein Mensch mit 24 Stunden Assistenzbedarf kann nicht alleine bleiben. Also muss schnell für Ersatz gesorgt werden; eine andere Assistenzkraft springt ein, die eigentlich gerade frei gehabt hätte. Da fährt eine Assistenznehmerin in Urlaub – weil sie nicht mehrere Personen mitnehmen kann, die sie begleiten, ist jemand zwei Wochen lang 24 Stunden für sie da.
Arbeitszeiten der Assistenzkräfte nicht immer familientauglich
„Wir suchen keine Probleme, sondern individuelle Lösungen. Im Arbeitsalltag bedeutet das, immer wieder neu zu definieren, was passt“, berichtet Birgit Frieß, die seit November 2020 die ISA leitet. Sie ist beeindruckt von dem Arbeitsbereich, den sie in diesen Monaten kennengelernt hat. Die Assistenzkräfte ersetzen Arme und Beine, ihre Arbeitszeiten sind nicht immer familientauglich. Ihre Tätigkeit als Assistenzkraft ist kaum bekannt und hat wenig gesellschaftliche Anerkennung. Und trotzdem arbeiten sie motiviert und sind immer wieder bereit, für andere einzuspringen, wenn es nötig ist. „Davon bin ich jeden Tag aufs Neue beeindruckt“, sagt Birgit Frieß.
Beeindruckt sind die Mitarbeitenden des Koordinations-Teams der ISA auch von den Assistenznehmenden, den Menschen mit Beeinträchtigung. Deren Lebensentwürfe lösen sich auf, wenn sie einen Unfall hatten oder erkrankt sind; ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Rollenbeschreibungen ändern sich. Sie werden abhängig, verwundbar, verlieren ihre Beweglichkeit. Oft stehen sie vor dem finanziellen Ruin, weil sie berufsunfähig sind. Doch sie haben überlebt – und machen das Beste daraus. „Dieser Überlebenswille, diese Kraft und der Mut jedes Einzelnen in der ISA sind immer wieder berührend“, so Birgit Frieß. (uli)