Stuttgart. Wenn Sozialarbeiter nicht mehr weiterkommen bei besonders schwierigen Klienten, wird der Ruf nach Therapie laut. Doch sind die Methoden der Psychotherapie dem sozialpädagogischen Handeln tatsächlich immer überlegen? Beim Treff Sozialarbeit am 26. September im Haus der Diakonie der eva haben Experten aus verschiedenen Einrichtungen Fallbeispiele aus der Praxis diskutiert.
„Systemsprenger" heißt ein aktueller Film, der von einem neunjährigen Mädchen handelt, das so liebebedürftig wie aggressiv ist und deren unbändige Wut von niemandem ausgehalten wird – von der Mutter nicht, aber auch nicht von der Sozialarbeiterin oder dem Schulbetreuer. Der berüchtigte Drehtüreffekt, der Wechsel zwischen Psychiatrie und Pflegefamilie, der diesem Mädchen widerfährt, ist auch den Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern nicht fremd, die beim Treff Sozialarbeit einzelne Fälle besprochen haben.
„Die Kluft ist gar so groß“
Henning Ide-Schwarz leitet die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Stuttgart und hat dort die zehnjährige Martha (alle Namen der Kinder und Jugendlichen sind geändert) kennengelernt. Sie ist in ihrer intensivpädagogischen Einrichtung immer wieder hoch hinauf auf einen Baum geklettert, hat sich gefährdet, so aber auch extreme Aufmerksamkeit der pädagogischen Mitarbeiter erfahren. „Die Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben Marthas Betreuern letztlich die Lizenz zum Wegschauen erteilt", berichtet Die-Schwarz. Nur durch das Ignorieren war es den Pädagogen möglich, das selbstschädigende Verhalten von Martha zu verändern – als sie nicht mehr beachtet wurde auf dem Baum, ist sie auch nicht mehr hinaufgestiegen. „Hier hat die Klinikautorität zur Absicherung der pädagogischen Fachkräfte beigetragen", für Ide-Schwarz ein gutes Zusammenspiel von Ärzten und Pädagogen.
Ein anderes Beispiel: Die 16-jährige Jule lebt nach einer hässlichen Trennung der Eltern in einer Wohngruppe. Das stille Mädchen ändert sein Verhalten plötzlich radikal. Ein Psychoseverdacht erhärtet sich. Jule bleibt fünf Monate in der Klinik und geht dann zur Stabilisierung in eine Reha-Einrichtung. „Je gesünder Jule wurde, desto größer wurde der Bedarf an Strukturen, die eine sozialtherapeutische Einrichtung anbietet", so Ide-Schwarz. Auch dieser Fall ist für ihn ein Beispiel, bei dem Therapie und Pädagogik gut ineinander gegriffen haben. Je jünger die Patienten sind, desto schwammiger sei die Grenze zwischen pädagogischen und therapeutischen Hilfen. Ein Grenzziehung gäbe es dennoch: Was die Krankenkasse bezahlt, das ist Therapie. Ide-Schwarz plädiert dafür, das gelingende Zusammenspiel zu suchen. „Die Kluft zwischen Pädagogik und Psychotherapie ist gar so groß", sagte er.
„Warum trauen wir uns nicht mehr zu?“
Sozialarbeit sei jedenfalls anstrengender als Therapie, so das Statement von Werner Lude, Psychologe und Fachberater bei der eva. Er setzt in seiner Arbeit auf einen engen Austausch mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ihre Unterstützung kann Sozialarbeitern den Rücken stärken.
Jochen Salvasohn ist Leiter von Scout. Dort leben 12 Jungs in einer geschlossenen Einrichtung mit intensivpädagogischer Betreuung. Hier gibt es viele Aggressionen, „gegen das Mobiliar, die Eltern, gegen andere Jugendliche und manchmal auch gegen Mitarbeiter", berichtet Salvasohn. Keine leichte Arbeit, die er aber mit viel Humor und gerne macht. Eines ärgert ihn jedoch: „Wenn Mitarbeiter denken, die Psychiatrie muss es jetzt richten, wenn es wieder einmal hart kommt. Warum dieser Reflex, warum trauen wir uns da nicht selbst mehr zu?" Sein Fallbeispiel ist ein 15-jähriger Junge, der eigentlich eine Überweisung für eine geschlossene Unterbringung in der Kinder-und Jugendpsychiatrie hatte. Aufgrund des Fehlers einer Mitarbeiterin im Beratungszentrum landete Peter, dem Aggressionsattacken, sozialphobische Rückzugstendenzen und Angststörungen attestiert wurden, bei Scout. Er lebt sich ein, geht zur Schule, es kommt zu keinem Wutausbruch mehr. Als Salvasohn den „Fehler" bemerkt, kontaktiert er die Kinder-und Jugendpsychiatrie. „Was Scout zu bieten hat, ist das, was der Junge braucht", lautete die Einschätzung des Arztes. Auch Peter selbst wird gefragt, wo er bleiben will: „Hier", war seine Antwort. Jetzt lebt er seit sechs Monaten bei Scout und hat dort zum ersten Mal auch eigene Interessen entwickelt: Autos sind sein Thema, darüber tauscht er sich auch mit einem Bezugsberater aus. „Der Fehler der Mitarbeiterin wurde für Peter zur Chance", sagt Salvasohn. „Wir waren die Richtigen für ihn." (ds)