Bundesweit einmaliges Streetwork-Projekt im Europaviertel wird über nationale Grenzen hinaus viel beachtet – Zwischenauswertung der wissenschaftlichen Begleitung jetzt vorgestellt – Veranstaltung gab Einblicke in die Praxis
Stuttgart. Seit März 2018 kümmert sich ein Team der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart um Jugendliche im Europaviertel, die sich in dem belebten Quartier präsentieren und ausleben. Die Verantwortlichen und Projektbeteiligten haben am 26. Juni aus der Praxis der vergangenen Monate berichtet und die Zwischenauswertung der wissenschaftlichen Begleitung vorgestellt. Sie waren sich an diesem Abend einig: Die Situation rund um die Stadtbibliothek und das Einkaufszentrum Milaneo hat sich seither deutlich verbessert. Um das bisher Erreichte zu etablieren, muss die gemeinsame Arbeit fortgesetzt werden.
Als einen „urbanen Abenteuerspielplatz mit Eventcharakter“ hat Prof. Thomas Meyer vom Institut für angewandte Sozialforschung (Ifas) der Dualen Hochschule Baden-Württemberg das Europaviertel einst bezeichnet, nachdem er die erste Situationsanalyse vor Ort durchgeführt hatte. An seiner Attraktivität für junge Menschen hat das zentral gelegene Quartier seither nichts verloren. Die konfliktreiche Situation mit Schlägereien, Pöbeleien und auch Messerstechereien, die dem Europaviertel zunächst negative Schlagzeilen eingebracht hatte, hat sich dagegen deutlich verbessert. „Das Projekt ist ein Riesenerfolg“, betonte Prof. Meyer. Er hat das „Vorzeigeprojekt“, wie er es nennt, von Beginn an wissenschaftlich begleitet. Mit seinem Team hat er dabei zahlreiche Interviews mit den Jugendlichen und anderen Akteuren im Viertel geführt. Die Ergebnisse hat er nun bei einer gemeinsamen Veranstaltung in der Stadtbibliothek vorgestellt. Seine Zwischenbilanz: „Es hat sich mehr als gelohnt, hier Zeit und Geld zu investieren.“
Zuvor hatte Stuttgarts Erster Bürgermeister Fabian Mayer in seinem Grußwort den Projektverantwortlichen gedankt und seinerseits betont, dass dieses „bundesweit einmalige und viel beachtete Projekt Brücken gebaut und neue Wege“ eröffnet habe. Es gelte zwischenzeitlich auch über nationale Grenzen hinaus als besonders innovatives Handlungsbeispiel, das neue, wertvolle Impulse für die Quartiersentwicklung bringe.
Zum Symbol und Sinnbild für den neuen Wind im Quartier ist der bunte Wohnwagen vor der Stadtbibliothek geworden, der die erste Anlaufstelle für die Jugendlichen ist. Er wurde gemeinsam mit den jungen Menschen ausgebaut und mit Graffitis besprüht. Das war eine der vielen Aktionen, die das Team der Mobilen Jugendarbeit um den Projektleiter Simon Fregin seither durchgeführt hat. Spiele wie Basketball oder Tischtennis gehören genauso zu den Angeboten wie eine gemeinsame Übernachtung, Kinobesuche, die wöchentliche Soundsession in der Stadtbibliothek oder eine Hip-Hop-Kulturwoche mit Rap-Workshop, die vor kurzem bereits zum zweiten Mal durchgeführt wurde. Bis zu zwanzig Jugendliche, fast ausschließlich junge Männer mit Fluchterfahrung, schauen täglich beim Team vorbei. „Sie haben Vertrauen zu uns gewonnen, weil wir ihnen auf Augenhöhe begegnen“, erzählte Simon Fregin. Er und andere Mitarbeitende des Teams begleiten die Jugendlichen auch bei Behördengängen, Bewerbungsgesprächen und Alltagsproblemen.
Auch Elke Brünle von der Stadtbibliothek kann nur von guten Erfahrungen berichten. Die Bücherei war am meisten von den Konflikten betroffen und ist an dem Projekt mit einer eigenen Stelle beteiligt. Die Mischung aus Mobiler Jugendarbeit und jugendkultureller Bildung sei einmalig und habe viele neue Ansätze ermöglicht, so die Leiterin der Bibliothek. „Das Projekt auslaufen zu lassen, wäre ein harter Bruch für alle“, betonte sie.
Die zweijährige Projektphase endet im Februar 2020, eine Fortsetzung ist nur mit gesicherter Finanzierung möglich. Im Moment wird das Projekt aus Mitteln der Landeshauptstadt Stuttgart, aus Geldern von Stiftungen sowie aus Spenden finanziert. Nun haben die Träger einen Haushaltsantrag bei der Stadt Stuttgart gestellt, so Klausjürgen Mauch, Bereichsleiter Jugendsozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva). Der diakonische Träger ist gemeinsam mit dem Caritasverband für Stuttgart sowie evangelischer und katholischer Kirche für die Mobile Jugendarbeit zuständig. Die Verantwortlichen wollten den Projektstatus beibehalten, um weiterhin flexibel agieren zu können, so Mauch. Denn das Umfeld bleibe sehr dynamisch, in den nächsten Jahren werden hier Hotels und weitere Wohnquartiere entstehen. Aus fachlichen Gründen sei eine Verlängerung um vier Jahre sinnvoll, sagte Mauch.
Eine Fortsetzung des Projekts empfiehlt auch Prof. Thomas Meyer vom Ifas. Der „Abenteuerspielplatz“ würde auch in Zukunft immer wieder neue Jugendliche und Cliquen anziehen. Dadurch würden auch neue Situationen entstehen, die moderiert und begleitet werden müssten, so Meyer. Die Interviews hätten gezeigt, dass das Streetwork-Angebot von allen Beteiligten im Quartier sehr geschätzt wird. Durch die Gemeinwesenarbeit habe das Team zudem ein Netzwerk aufgebaut und könne im Bedarfsfall meist so frühzeitig vermitteln, dass Konflikte erst gar nicht hochkochen, so der Sozialwissenschaftler. Sein Befund fällt eindeutig aus: „Das Projekt darf nicht einschlafen!“