Beim letzten Treff Sozialarbeit vor der Sommerpause haben Experten am 12. Juli über einen bedarfsgerechten Umgang mit traumatisierten Menschen in der Wohnungsnotfallhilfe diskutiert
Stuttgart. Menschen, die weder eine Wohnung noch sonst eine feste Bleibe haben, sind oft von vielerlei Problemen betroffen. Meist leben sie isoliert, haben kaum soziale Kontakte und müssen im Krankheitsfall ohne jede medizinische Versorgung auskommen. Nicht selten, so die hinlänglichen Erfahrungen der Sozialarbeiter, Psychologen und Therapeuten, geht mit der Wohnungslosigkeit auch ein Trauma einher. „Die existentiellen Ängste der Menschen stehen in solchen Situationen immer im Vordergrund. Daher ist es sehr schwierig, einen Zugang zu finden, um das Trauma aufzuarbeiten“, sagt Svenja Hartkorn.
Die Traumatherapeutin, die seit vielen Jahren für die Evangelische Gesellschaft (eva) in der Wohnungsnotfallhilfe arbeitet, hat am 12. Juli beim Treff Sozialarbeit der eva zusammen mit Dr. Martin Roser vom Rudolf-Sophien-Stift, dem Psychologischen Psychotherapeuten Jochen Ostertag sowie Rosel Tietze und Jan Peter vom Sozialamt der Landeshauptstadt diskutiert, wie eine bedarfsgerechte Versorgung traumatisierter Menschen in der Wohnungsnotfallhilfe gelingen kann. Welche konkreten psychotherapeutischen und psychiatrischen Hilfen können angeboten werden? Wie groß ist der Bedarf an Unterstützung jenseits der Existenzsicherung? Und auf welchem Weg kann die Zielgruppe am besten erreicht werden? „Es ist wichtig, den Betroffenen eine andere Sichtweise auf ihre Lebenssituation zu vermitteln und mit ihnen gemeinsam neue Perspektiven zu entwickeln“, sagt Jochen Ostertag, der nach langjähriger klinischer Arbeit seit einiger Zeit als psychologischer Berater im Stuttgarter Projekt Medizinische Assistenz (MediA) tätig ist.
MediA wurde im Jahr 2017 modellhaft als Kooperationsprojekt mit dem Ziel gestartet, wohnungslose Menschen in Stuttgart, die bisher keine oder sehr wenig Hilfe zu medizinischen Angeboten erhalten haben, in das Regelsystem der ärztlichen Versorgung zu integrieren. Dazu werden sie von Sozialarbeitern sowie Ehrenamtlichen bei Arztbesuchen begleitet. Zusätzlich bietet MediA eine aufsuchende psychiatrische Behandlung in den Anlaufstellen der Wohnungsnotfallhilfe an. Getragen wird das Projekt von der eva, dem Caritasverband für Stuttgart, dem Sozialdienst katholischer Frauen dem Sozialamt Stuttgart sowie der Vector Stiftung als Förderer. In den vergangenen anderthalb Jahren haben die beteiligten Einrichtungen vielfältige Erfahrungen gemacht, wie Ostertag berichtet: „Wir hatten gedacht, dass wir auf eine Vielzahl chronisch und psychisch kranker Menschen treffen und sie einfach in das passende Hilfesystem weitervermitteln. Das funktioniert so aber nicht.“
Ein Grund dafür ist unter anderem, dass die Betroffenen oftmals nicht einsichtig sind, was ihre Krankheit betrifft. Gleichzeitig fühlen sich viele gut aufgehoben in der Wohnungsnotfallhilfe und wollen keinesfalls in eine Psychotherapie oder psychiatrische Behandlung überwiesen werden. Diese Ambivalenz der Klienten und des Hilfesystems gleichermaßen zeigt sich auch im Miteinander und Durcheinander der Paragrafen, die den Umfang sowie die Art und Weise der Betreuung vorgeben.
§ 53 Sozialgesetzbuch XII (SGB) regelt das „Ambulant Betreute Wohnen im Rahmen der Eingliederungshilfe“, § 67 SGB XII hat seine Anwendungsfeld in der „Überwindung sozialer Schwierigkeiten“. Rund 4000 Menschen sind derzeit in Stuttgart in der Wohnungsnotfallhilfe erfasst, etwa die Hälfte davon nach § 67. Demgegenüber stehen tausend Plätze in 53 Einrichtungen. „Die zentrale Frage ist, wie viele Betroffene tatsächlich psychisch auffällig sind und entsprechende Hilfe benötigen“, so der Sozialplaner Peter.
Unabhängig davon liege der Versorgungsgrad in Stuttgart weit über dem Landesdurchschnitt, betont Rosel Tietze vom Stuttgarter Sozialamt. In manchen Regionen auf dem Land würde ein Sozialarbeiter auf 100.000 Einwohner kommen. Auch sie hat die Erfahrung gemacht, dass es oftmals sehr schwierig ist, psychisch kranken und gleichzeitig wohnsitzlosen Menschen zu helfen, weil diese ihr Krankheitsbild oft nicht erkennen können. Schnittstellenarbeit sei daher sehr wichtig, etwa ein niedrigschwelliger Zugang zur Psychotherapie für die Betroffenen und Fortbildungen für interessierte Psychotherapeuten mit Blick auf die spezielle Klientel. „Wir müssen intensiv überlegen, wie es gelingen kann, mehr psychiatrische Leistungen auf Basis einer Institutsambulanz in das System zu bekommen“, so Rosel Tietze.
Ein Ansatz ist das so genannte Home Treatment, also die Behandlung psychisch erkrankter Menschen im eigenen häuslichen Umfeld. Seit Januar 2018 ist das grundsätzlich möglich. „Wir sind als Stadt dran, das umzusetzen“, sagt Rosel Tietze. Dr. Martin Roser, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Rudolf-Sophien-Stift, würde gerne noch einen Schritt weitergehen. Sein Vorschlag: Die Teams im Bereich der Sozialen Arbeit, die auf Grundlage von § 67 Klienten betreuen, speziell schulen und bei Auffälligkeiten einen Arzt informieren, der dann gezielt eine Sprechstunde mit dem Betreffenden vereinbart. Seiner Erfahrung nach braucht es intensive Kooperationen von Sozialpsychiatrie und Wohnungsnotfallhilfe, um eine angemessene und bedarfsgerechte Unterstützung leisten zu können. Er sehe als Mediziner grundsätzlich sehr hohen Bedarf, etwa aufgrund von Persönlichkeitsstörungen, bipolaren Störungen, Schizophrenie oder anderen Ausprägungen. Im Gegenzug sei bisher aber wenig erreicht worden. Mit seinem Team sei er viel unterwegs gewesen in Einrichtungen aller Art. „Sobald ich mich als Arzt zu erkennen gebe, wird es schwierig“, sagt er. „Viele haben Angst vor bestimmen Medikamenten oder fürchten gar eine Einweisung.“
Die Folge sei, dass die angebotene medizinische Hilfe vielfach nicht in Anspruch genommen wird. Die Vermittlungsquote in eine psychologische Beratung oder psychiatrische Behandlung sei sehr gering, so Roser. Bleiben die Betroffenen in der Wohnungsnotfallhilfe, folgt wiederum das Problem, dass diese Art der Unterstützung rechtlich auf einen überschaubaren Zeitraum begrenzt ist. Da anfangs die existentiellen Probleme im Vordergrund stehen, also Themen wie Beziehung, Arbeit, Geld, Wohnen, so Traumtherapeutin Svenja Hartkorn, ist es in dieser Konstellation meist nicht möglich, auch das eigentliche Trauma aufzuarbeiten.