Zwischen Übergangslösung und Lebensrealität: Manche verbringen ihre ganze Kindheit in Sozial- und Fürsorgeunterkünften
Gegen Stereotype im Fall von Wohnungslosigkeit wendet sich Natalie Hartmann. Viele würden vor allem an ältere Männer mit Bart und wirrem Haar denken, erläuterte die Professorin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva). Dies habe Einfluss darauf, wie die Hilfsangebote ausgestaltet werden, betonte die Leiterin des Studiengangs „Arbeit, Integration, Soziale Sicherung“. Denn diese Angebote würden sich vor allem an alleinstehende Männer richten. Doch laut Wohnungslosenbericht der Bundesregierung von 2024 leben über die Hälfte der in Unterkünften untergebrachten Personen im familiären Verbund. Da Kinder meist die Hauptleidtragenden sind, hat die eva darauf mit der Einrichtung des Familienkontaktbüros in Stuttgart-Freiberg reagiert.
Nach Angaben Natalie Hartmanns verbringen rund ein Drittel der Betroffenen länger als zwei Jahre, in manchen Fällen bis zu zwei Jahrzehnte in Sozial- und Fürsorgeunterkünften. Deshalb kann es sein, dass diese Art der Unterbringung die ganze Kindheit umfasst. Dabei ist sie nur für eine kurze Zeitspanne gedacht, nachdem eine Wohnung geräumt worden ist. Unter dem Motto „Prekär statt auf Zeit – Sozial- und Fürsorgeunterkünfte zwischen Übergangslösung und Lebensrealität“ haben sich die Wissenschaftlerin sowie Expertinnen und Experten der Stadt Stuttgart und der eva mit dieser oft langfristigen Realität für die Familien befasst.
Mehr Prävention gegen Wohnungslosigkeit könnte helfen
Die Ursachen für Wohnungslosigkeit sind laut Natalie Hartmann vielschichtig. Meist sind es Mietschulden, oft verbunden mit Trennung, psychischer Erkrankung, mangelndem Einkommen, Arbeitslosigkeit, Kündigung aufgrund von Eigenbedarf, Flucht und Migration, Sucht- oder Gewalterfahrungen oder der Verlust des Partners. Die Professorin sieht hier die Chance, mit verstärkter Prävention Wohnungslosigkeit zu verhindern.
Schließlich sei der Verlust der Wohnung für Familien ein radikaler Einschnitt, der verstärkte Diskriminierung und Stigmatisierung sowie soziale Ausgrenzung zur Folge habe. „Kinder sind über die Armut der Eltern betroffen“, betonte Natalie Hartmann. Deshalb müsse Hilfe immer die ganze Familie im Blick haben, forderte die Professorin. Sie betonte, dass 34 Prozent der Menschen in Unterkünften für wohnungslose Menschen in Deutschland Paarhaushalte mit Kindern sind, was etwa 150.000 Personen entspricht. Weitere 17 Prozent oder mehr als 73.000 Personen seien Alleinerziehende.
Mit der Einrichtung eines Kinderkontaktbüros in einer Fürsorgeunterkunft in Stuttgart-Freiberg hat die eva ein Angebot der aufsuchenden Hilfe geschaffen, wie Natalie Hartmann es fordert. Nach Angaben von Noudjal Boulo, Bereichsleiterin der Hilfen zur Erziehung bei der eva, leiden die Kinder und Jugendlichen unter Stigmatisierungen, beengten Wohnverhältnissen, sozialer Isolation, materieller Armut oder Schulwechsel. „Ein wichtiger Punkt ist der Aufbau einer Beziehung zu den Eltern“, erläuterte Noudjal Boulo. Der Schutz vor Gewalt, das Lernen, mit Frustrationserlebnissen umzugehen, sowie der Zugang zu Bildung und sozialer Realität sind für Boulo zentrale Punkte der Arbeit des Kontaktbüros.
Neue Aufgaben durch neue Bedarfe
Noudjal Boulos Kollege Wolfgang Rube, Bereichsleiter der Ambulanten Dienste Nord, plädierte für gestreute Unterkünfte an Stelle von Zweckbauten am Rande der Stadt. Er befürwortet nicht nur die soziale Arbeit vor Ort, er hält auch die Betreuung nur sinnvoll im Miteinander verschiedener Dienste. Sein zentrales Anliegen ist jedoch, Wohnungsverlust durch Prävention zu vermeiden. Jede Wohnung, die nicht geräumt wird, ist für ihn ein wertvoller Baustein, da im Bereich preisgünstigen Wohnens Ressourcen fehlen.
„Ganz vieles wird schon angegangen durch die eva und die Stadt“, betonte Natalie Hartmann. Stärker auf die Bedürfnisse von Familien will auch die Stadt Stuttgart eingehen. Als problembehaftetes System beschreibt Benjamin Buck vom Amt für Soziales und Teilhabe die Unterbringung in Sozialunterkünften, die von privaten Unternehmern betrieben werden. Diese sind für ihn „kein geeigneter Ort, an dem Kinder aufwachsen sollen“. Deshalb will die Stadt Sozialunterkünfte in Eigenregie betreiben. Daniela Steinhoff vom Jugendamt der Stadt stellte das Stuttgarter Modellprojekt vor, mit dem Kinder, Jugendliche und Familien in Unterkünften unterstützt und begleitet werden. Hier sind Fachkräfte-Tandems vor Ort tätig. Beteiligt ist auch die Mobile Jugendarbeit der eva. „Aus neuen Bedarfen erwachsen neue Aufgaben“, sagte Daniela Steinhoff.