Im Gradmann Haus erleben die Demenz-Erkrankten auch in Corona-Zeiten fast normalen Alltag – Heimleiterin informiert Angehörige mit E-Mails und Fotos – Im Pflegezimmer kann trotz Besuchersperre Abschied genommen werden
Stuttgart. Seit vier Wochen herrscht im Gradmann Haus, einer Einrichtung für an Demenz-Erkrankte in Stuttgart-Kaltental, eine strikte Besuchersperre. „Es ist mir schwer gefallen, zuzumachen. Aber der Schutz der uns anvertrauten Menschen stand und steht an erster Stelle“, sagt Ursula Queisser, Bereichsleiterin bei der Evangelischen Gesellschaft (eva) und Einrichtungsleiterin des Gradmann Hauses. Bislang gibt es keinen Corona-Fall in der Einrichtung. Sollte es soweit kommen, wäre das Haus mit einer Quarantänemöglichkeit und zwei unabhängig voneinander arbeitenden Pflegeteams darauf vorbereitet.
Letztlich leiden die Angehörigen mehr darunter, nicht mehr ins Heim zu können, als die Bewohner, die in einem fortgeschrittenen Stadium an Demenz erkrankt sind, berichtet Ursula Queisser. „Die Bewohner spüren, dass eine vertraute Person und das Ritual des Besuchs fehlen. Aber ihr Alltag ist dennoch weiter da“, sagt die Einrichtungsleiterin. Dass die Pflegekräfte neuerdings einen Mundschutz tragen, hat die Erkrankten nur kurz irritiert.
Auf den Fotos aus dem Garten ist Lebensfreude zu sehen
Ernährungssonden gibt es bei den Bewohnerinnen und Bewohnern auch in dieser Ausnahmesituation nicht. Das Essen wird gereicht und ist auf sechs Mahlzeiten am Tag verteilt. Zwar fehlen die Angehörigen, die teilweise beim Essen unterstützt haben – was bei an Demenz Erkrankten mühsam ist, lange dauert und viel Geduld erfordert. Doch weil die Tagespflege im Gradmann Haus aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen ist, pflegen und betreuen deren Mitarbeitende jetzt zusätzlich zu dem engagierten Stammpersonal die Heimbewohner. „Bis jetzt ist noch immer eine Tür aufgegangen, wenn es bei der Personalplanung eng geworden ist“, berichtet Ursula Queisser. „Wir können unsere 26 Bewohnerinnen und Bewohner weiterhin gut, menschenwürdig und ganzheitlich pflegen. Da bin ich unseren einfühlsamen Mitarbeitenden sehr dankbar.“
Mit den Angehörigen hält Ursula Queisser Kontakt über E-Mails. Dort berichtet sie über den Alltag im Heim und verschickt auch Fotos. „Das wissen viele besonders zu schätzen, weil auf den Bildern, die wir am Gründonnerstag im Garten aufgenommen haben, auch Lebensfreude und Fröhlichkeit zu sehen war“, erzählt sie. Auf einer Pinnwand sind sämtliche Karten aufgehängt, die die Angehörigen in der jüngsten Zeit an das Team geschickt haben. Und das sind viele. „Wir freuen uns über jede Danke-Karte in dieser Ausnahmesituation“, sagt die Einrichtungsleiterin.
Videotelefonie macht für die Demenz-Erkrankten nur begrenzt Sinn
Für den telefonischen Kontakt zwischen Angehörigen und Bewohnern gibt es empfohlene Telefonzeiten: Vormittags ab 10.30 Uhr und nachmittags ab 16 Uhr. So kollidieren die Gespräche nicht mit der Pflege und den Hauptmahlzeiten. Und die Mitarbeitenden haben genügend Zeit, mit den Angehörigen zu sprechen und das Telefon weiterzureichen. Videotelefonie macht für die Demenz-Erkrankten nur begrenzt Sinn, wird aber weiter angeboten. Kürzlich hat ein Sohn sein Smartphone der Einrichtung übergeben. Er wollte seiner Mutter ermöglichen, dass sie ihren Ehemann, der im Gradmann Haus lebt, via Bildschirm beim Telefonieren sehen kann. Die Mitarbeiter waren gern dabei behilflich – doch der Ehemann hat das Telefon ans Ohr gehalten, wie er das immer getan hat.
Froh ist Ursula Queisser darüber, dass sie es den Angehörigen möglich machen kann, sich auch in Zeiten der Besuchersperre von der Mutter, dem Vater oder dem Partner zu verabschieden, wenn sich das Lebensende ankündigt. Dafür steht der ehemalige Pausenraum bereit, der jetzt zum Pflegezimmer umfunktioniert wurde und getrennt von außen zugänglich ist. Bislang wurde er noch nicht gebraucht. Für die Angehörigen war es jedoch sehr erleichternd zu erfahren, dass es ihn gibt, weiß Ursula Queisser.
So sehr sich die Einrichtungsleiterin das Ende der Ausnahmesituation herbeisehnt, ein wenig fürchtet sie sich auch davor. Denn wenn die Angehörigen wieder kommen dürfen, hat sich möglicherweise der kognitive Zustand ihrer Lieben weiter verändert – und manch Angehöriger wird dann möglicherweise gar nicht mehr „erkannt“. „Für den Umgang mit einer solchen Situation gibt es noch keine Erfahrungswerte. Aber auch hier werden wir weder Bewohnerinnen und Bewohner noch Angehörige allein lassen“, verspricht die Expertin für Demenz-Erkrankte. (ds)