Der Übergang von der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben war Thema beim Treff Sozialarbeit der eva – Studie zu so genannten „Care Leaver“ vorgestellt
Wie gelingt Jugendlichen, die in einer stationären Einrichtung oder bei Pflegeeltern aufwachsen, der oft abrupte Übergang ins Erwachsenenleben? Diese Frage stand beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 20. Februar im Fokus. Das Thema lautete „Jugendhilfe – und dann?“. Referentin Britta Sievers von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) stellte eine Untersuchung zu diesen so genannten „Care Leavern“ vor, die die IGfH zusammen mit der Universität Hildesheim durchgeführt hat. Es war die erste Studie zu dieser Gruppe junger Erwachsener in Deutschland überhaupt. Eine zentrale Erkenntnis: Die Care Leaver werden hierzulande kaum als eigenständige Gruppe mit besonderem Bedarf wahrgenommen. Denn bereits im 17., spätestens aber im 18. Lebensjahr gewährten die Ämter immer seltener Hilfen wie Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer oder stationäre Unterbringung. Die Folge: Die Jugendlichen müssen sehr früh selbstständig sein. Zu früh, wie sich in vielen Fällen zeigt.
Jungen Menschen, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, werden in Deutschland vergleichsweise spät flügge: Junge Männer verlassen im Schnitt mit 26 das Elternhaus, junge Frauen mit 24. Das zeige, so Sievers, dass „viele junge Erwachsene bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt von ihren Familien unterstützt werden und diese Unterstützung auch gut gebrauchen können, um ihren Platz im Arbeitsleben zu finden.“ Daher könne man nicht mehr sagen, dass 18-Jährige selbstständig seien. „Man muss davon ausgehen, dass die Jugendphase sich verlängert, gleichzeitig hat sich der Druck, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, erhöht. Das bildet sich in der Jugendhilfepraxis so heute noch nicht ab.“ Denn die Care Leaver sind oft mit 18 Jahren weitgehend auf sich selbst gestellt: Es fehlen die Rückkehrmöglichkeit, der familiäre Rückhalt, die emotionale Unterstützung und finanzielle Ressourcen. Viele klagten über Einsamkeit. „Insgesamt kann man sagen, dass im Vergleich zu den anderen jungen Erwachsenen diese Gruppe doch deutlich benachteiligt ist“, sagte Sievers.
Care Leaver: häufiger psychisch krank, straffällig, suchtkrank
Während in Deutschland gar nicht erfasst werde, was aus diesen jungen Menschen werde, hätten internationale Studien gezeigt, dass die Care Leaver häufiger obdachlos, psychisch krank, straffällig oder süchtig werden. „Diese Gruppe ist überdurchschnittlich häufig von sozialer Benachteiligung und Exklusion betroffen“, sagte die Sozialarbeiterin. Viele bekämen erst mit Anfang oder Mitte 20 die Kurve hin zu einer Ausbildung. „Dann ist in Deutschland die Jugendhilfe aber ganz klar nicht mehr zuständig“, so Sievers. Das sei in anderen Ländern anders geregelt. Viele Praktiker würden außerdem berichten, die jungen Menschen über starke Isolation oder Einsamkeit klagen. Besonders zur Nachahmung empfahl Sievers daher ein Modell aus der Schweiz: Dort bekomme möglichst jedes Kind eine Bezugsperson aus dem Herkunftsumfeld als Pate zur Seite gestellt, damit wenigstens ein Ansprechpartner dauerhaft erhalten bleibt.
Mit ihrer Untersuchung hatten sich die IGfH und die Uni Hildesheim zum Ziel gesetzt, gute Praxisbeispiele zu finden. Für die Studie sind in den vergangenen zwei Jahren 47 nicht repräsentativ ausgewählte Mitarbeitende aus Wohngruppen, Vormünder und andere Fachkräfte der Jugendhilfe befragt worden. Zusammengetragen haben die Forscher zahlreiche gute Ansätze: So bieten einige Träger den Care Leavern eigene Wohnungen in der Nähe der bisherigen Wohngruppe an. Andere suchen Wohnungen im Stadtgebiet, die der junge Mensch noch während der Betreuung selbst mietet. Das bringe den Vorteil, dass er nach Hilfeende wohnen bleiben kann, so Sievers. „Wohnen auf Probe“ bietet beispielsweise ein Kinderdorf auf dem eigenen Gelände an. Außerdem gibt es Angebote, um die Jugendlichen auf ihr selbstständiges Leben vorzubereiten: Kompetenztrainings zu Hauswirtschaft, Gesundheit, Körperhygiene oder zu den persönlichen Finanzen. Verschiedene stationäre Einrichtungen organisieren beispielsweise Runde Tische oder Mentorenprogramme, um den Übergang von der Schule ins Berufsleben zu erleichtern.
"Wenn Jugendhilfe endet, fühlt sich Jugendhilfe auch nicht mehr zuständig"
Ein grundsätzliches Problem aber bleibe: „Wenn Jugendhilfe endet, fühlt sich die Jugendhilfe auch nicht mehr zuständig“, kritisierte Sievers. Mehr als ein Sommerfest oder eine Facebook-Gruppe bleibe als Kontakt zur stationären Einrichtung selten übrig. „Aber wir haben aus dem Projekt herausgehört, dass das ein Bereich ist, den man weiterentwickeln könnte.“ Grundsätzlich wäre es aus ihrer Sicht wünschenswert, die Übergangsprozesse zu entzerren. Denn oftmals müssten die Jugendlichen beim Auszug aus der stationären Einrichtung nicht nur das Beziehungsende zu den bisherigen Bezugspersonen verkraften, sondern auch den Übergang von der Schule in den Beruf meistern und hierfür oftmals den Wohnort wechseln. Die befragten Fachkräfte äußerten den eindringlichen Wunsch, dem Care Leaver einen Ort der Rückkehr zu schaffen. Man müsse flexibler reagieren, wenn das Alleinwohnen nicht klappt, und die Netzwerke und gegenseitigen Unterstützungsmöglichkeiten stärken.
Etwas anders sieht es bei Pflegekindern aus. Dort werden die Hilfen tendenziell länger gewährt, zumal die Jugendlichen mit den Pflegeeltern eine starke Lobby haben. Trotzdem komme es in der Phase des Auszugs häufig zu Konflikten oder einer Kontaktpause. „Generell war der Wunsch der Fachkräfte, nicht so lange um eine Verlängerung kämpfen zu müssen, da diese Kinder fast alle in der Entwicklung verzögert sind.“ Insbesondere die „unglaublich unterschiedliche“ Bewilligungspraxis der Behörden kritisierte Sievers. Oft hänge vom einzelnen Sachbearbeiter oder einer bestimmten Leitlinie des Jugendamtes ab, was gewährt werde. Grundsätzlich aber werde fiskalisch entschieden. Zudem orientierten sich sowohl Träger als auch Ämter an der überholten Vorstellung, mit 18 Jahren sei der junge Mensch erwachsen. Bildung werde hingegen kaum als Chance wahrgenommen. „Es wurde auch berichtet, dass Jugendämter nicht begeistert sind, wenn ein Jugendlicher Abitur machen will, weil er dann einfach länger Geld kostet“, so Sievers.
Als positives Beispiel hob die Sozialarbeiterin Großbritannien hervor, wo der Hilfeanspruch erst mit 21 Jahren endet, bei einer Ausbildung sogar erst mit 24. In Norwegen profitieren junge Menschen bis zum 23. Lebensjahr von der Jugendhilfe. Mitarbeitende müssten die Jugendlichen hier einmal im Jahr aufsuchen und fragen, ob sie Hilfe benötigen. Durch Lobby-Organisationen sei die Gruppe der Care Leaver etwa in Großbritannien und Irland auch deutlich präsenter als in Deutschland.
In der anschließenden Diskussion äußerten auch einige Zuhörerinnen und Zuhörer ihr Unbehagen darüber, dass der Verbleib der Care Leaver unklar bleibt und die Hilfe-Möglichkeiten nach dem 18. Geburtstag begrenzt sind. In Stuttgart gebe es dazu noch das besondere Problem, dass kaum bezahlbarer Wohnraum für diese jungen Frauen und Männer zu finden sei.