Stuttgart. Ist es gelungen, bei der Reform der Pflegeversicherung neue Ungerechtigkeiten zu vermeiden? Diesen politischen Willen haben die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag als wesentlichen Punkt formuliert, ganz geglückt ist das durchaus ambitionierte Vorhaben nach Einschätzung von Heike Baehrens allerdings nicht. „Das neue Pflegestärkungsgesetz schließt wichtige Lücken, es hat aber auch seine Tücken“, so die SPD-Bundestagsabgeordnete, die diese Einschätzung auch schon in einer persönlichen Erklärung im Bundestag kundgetan hatte. Eingebracht hat der Gesundheitsexpertin ihr öffentlicher Beitrag einen Verweis des Bundestagspräsidenten und einige Rügen aus der eigenen Fraktion. „Es war mir aber wichtig“, so Heike Baehrens, „bei allen positiven Aspekten auch auf die Schwachstellen hinzuweisen.“
Zusammen mit Hartwig von Kutzschenbach von der Alzheimer Gesellschaft und Joachim Hessler vom Referat für Altenhilfe der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft hat die Bundestagsabgeordnete aus dem Landkreis Göppingen beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 10. März über die unterschiedlichen Facetten und Auswirkungen der Reform in der Pflegeversicherung diskutiert. „Das neue Gesetz ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf“, betonte sie zu Beginn ihres Vortrags. So hätten Angehörige künftig etwa auch einen eigenen Anspruch auf Pflegeberatung.
Neu definierter Pflegebedürftigkeits-Begriff
Kernstücke des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II), das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist, sind der neu definierte Pflegebedürftigkeits-Begriff und das neue Begutachtungsverfahren. Dabei sollen erstmals alle Pflegebedürftigen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, unabhängig davon, ob sie von körperlichen oder psychischen Einschränkungen betroffen sind. Das Jahr 2016 dient dazu, das neue Verfahren in der Praxis vorzubereiten und auf die fünf Pflegegrade umzustellen, die ab dem 1. Januar 2017 die bisherigen drei Pflegestufen ersetzen werden. Zum Stichtag wird automatisch auf das neue Verfahren übergeleitet. „Die neue Begutachtungsmethode ist wesentlich nachvollziehbarer und einfacher zu handhaben als das bisherige Verfahren“, so Heike Baehrens.
Damit durch die Umstellung niemand schlechter als bisher gestellt ist, sieht das Gesetz einen Bestandsschutz vor. In vielen Fällen werden die Betroffenen höhere Leistungen als bisher in Anspruch nehmen können. „Es kommt mehr Geld ins System, was damit genau passiert, ist bisher aber noch nicht entschieden“, sagte Joachim Hessler, der aus der Sozialarbeit kommt und zwischenzeitlich als Referent für Altenhilfe bei der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft mehrtägige Seminare zum Thema Pflegereform leitet.
Das PSG II beinhalte gravierende Änderungen bei den Leistungsbeträgen, so Hessler. Der politische Wille dabei sei, den ambulanten und teilstationären Bereich deutlich zu stärken, was sich in den einzelnen Beträgen deutlich auswirke. Bei einer Einstufung in den Pflegegrad 5 könnten im Bereich ambulant/teilstationär bis zu 4.316,50 Euro abgerufen werden, wenn es die passenden Angebote in der Praxis gibt. Bei der vollstationären Pflege liege die Grenze im direkten Vergleich bei 2.005,00 Euro. Beim Pflegegrad 2 mache der Unterschied immerhin noch knapp tausend Euro aus. Die Folge sei, so Hessler, dass die Nachfrage nach vollstationärer Pflege zurückgehen werde, was mit einigen Unwägbarkeiten für die Einrichtungen und Dienste verbunden sei.
Immer mehr Pflegebedürftige kommen ins Heim
Genau darin sieht Hartwig von Kutzschenbach einen wesentlichen Knackpunkt und Fehler im System. Entgegen der politischen Vorgaben und Wünsche sei es Realität, dass es immer mehr alleinstehende ältere Menschen gebe, deren Familien weit weg leben. Daher müssten viele Pflegebedürftige ins Heim – Tendenz steigend. „Die Pflegesituation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in diese Richtung verändert“, so der Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg, der unter anderem auch den Sozialpsychiatrischen Dienst für ältere Menschen im Landkreis Esslingen leitet. Der Ansatz, die Zuschüsse für Heime so niedrig wie möglich zu halten, könne sich daher problematisch auswirken, glaubt der Experte. Dass die derzeit knapp 2,7 Millionen Pflegebedürftigen automatisch in einen Pflegegrad überführt würden, sei dagegen ein sehr positiver Teil des neuen Gesetzes, so von Kutzschenbach.
Um zum Stichtag 1. Januar 2017 auch im richtigen Pflegegrad zu landen, empfiehlt der Altenpflegereferent Joachim Hessler, möglichst noch in diesem Jahr eventuell anstehende Untersuchungen auf eingeschränkte Alltagskompetenz oder andere Einschränkungen durchführen zu lassen. Das könne sich durch den doppelten Stufensprung finanziell bezahlt machen, so Hessler. Er sei gespannt, wie sich das Pflegestärkungsgesetz tatsächlich in der Praxis auswirken wird.
Die Bundestagsabgeordnete Heike Baehrens sieht in dem Gesetz grundsätzlich einen Schritt in die richtige Richtung. Der Gesetzgeber habe es in den vergangenen zwanzig Jahren versäumt, die Leistungen in der Pflegeversicherung der Preisentwicklung anzupassen, so die SPD-Politikerin. Nun werde immerhin mehr Geld für die Pflege bereitgestellt. Ein großer Fortschritt sei zudem, dass Menschen mit Demenz einen besseren Zugang zu den Leistungen erhalten und die Angehörigen künftig besser unterstützt würden.
Neue Ungerechtigkeiten
Zu den neuen Ungerechtigkeiten, die sie auch im Gesundheitsausschuss immer wieder benennt, zählt Heike Baehrens allen voran den einheitlichen Eigenanteil für Heimbewohner über alle Pflegegrade hinweg. Bisher steigt der Eigenanteil mit der Höhe der Pflegestufe, ab 2017 gelten einrichtungseinheitliche Eigenanteile. Die Folge ist, dass Bewohner mit einer niedrigen Einstufung künftig mehr zahlen müssen als bisher und der Anteil in höheren Pflegegraden prozentual niedriger wird. Ein einheitlicher Eigenanteil sei gut für diejenigen, die einen hohen Pflegebedarf haben und viele Leistungen in Anspruch nehmen müssen, so Heike Baehrens. Die Solidarität mit den schwer Pflegebedürftigen führe jedoch zur finanziellen Mehrbelastung von Pflegebedürftigen mit niedrigem Pflegegrad. Es stelle sich daher die Frage, ob diese von jenen als gerecht empfunden werden wird, die zukünftig zwar gleich viel bezahlen, aber wesentlich weniger Leistungen erhalten. „Wer wird ihnen erklären, dass die Altenpflegerin kaum Zeit für sie hat, während die Nachbarin intensiv versorgt wird?“, so die rhetorische Frage, die sie selber beantwortete: „Sie werden sich nicht ans Ministerium, an die Pflegekassen oder an uns Abgeordnete wenden. Sie werden diejenigen fragen, die ihnen am nächsten sind, die Pflegekräfte. Sie werden diejenigen fragen, die sich schon heute im Alltag aufreiben“, betonte die Bundestagsabgeordnete, die sich in diesem Punkt sicher ist: „Da wird eine neue Ungerechtigkeit geschaffen.“