Experten haben am 30. Oktober über das „herausfordernde Verhalten“ im Alter diskutiert
Wenn Menschen im Alter grantig und eigentümlich werden, wird dieses Verhalten oft als „normal“ abgetan und mit dem Älterwerden entschuldigt. Dass sich hinter dem Schimpfen und Schreien, dem Misstrauen und der Unruhe, den plötzlichen Stimmungswechseln und dem aggressiven Verhalten meist ein eigenständiges Krankheitsbild verbirgt, ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Doch die Zahlen sprechen für sich: Von den gegenwärtig etwa 1,4 Millionen Menschen, die an einer Demenzerkrankung leiden, zeigen 800 000 schwere Verhaltensauffälligkeiten. Aber was sind die Ursachen? Welche Probleme sind damit verbunden? Und wie können Angehörige und Pflegekräfte diesem schwierigen Verhalten konstruktiv begegnen? Antworten auf diese Fragen haben Experten unterschiedlicher Disziplinen beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 30. Oktober gesucht.
Maximilian Mächtlen kennt die „herausfordernden Verhaltensweisen“ aus der Praxis, als Geschäftsführer der eva Seniorendienste ist er jeden Tag damit konfrontiert. Das eva-Tochterunternehmen betreibt in Buchen unter anderem eine Pflegeheim für Demenzkranke sowie einen ambulanten Pflegedienst. „Die Ursachen für aggressives Verhalten liegen meist nicht in der Person selber, sondern im Umfeld“, betont er. So sei etwa mangelnde Beschäftigung eine häufige Ursache, nicht erkannte Schmerzen oder ein zu massives Vorgehen der Pflegekräfte bei der Körper- und Intimpflege, wenn diese von den Patienten verweigert wird. Zwischen 43 und 86 Prozent der Patienten wehren sich laut Mächtlen aus Schamgefühl oder anderen Gründen dagegen. „Es braucht ein bis zwei Monate, um sich die Erlaubnis zu erarbeiten, einen Menschen waschen zu dürfen. Diese Zeit muss man sich nehmen“, so Mächtlen.
"Längst nicht alles erklärt sich aus der Biographie"
Die Senioren-Einrichtung in Buchen arbeitet nach einem Pflegemodell, bei dem der Mensch als Beziehungssystem gesehen wird, das in Kontakt zu anderen lebt und auf sie reagiert. Der Grundgedanke dabei ist, dass Menschen im pflegerischen Alltag häufig über ihre Diagnosen, Probleme und Defizite wahrgenommen werden. „Das ist eine sehr negativ geprägte Sichtweise“, so Mächtlen. In der täglichen Praxis habe sich gezeigt, dass Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen viel Platz benötigen und dass Kälte aggressives Verhalten fördert. Und Männer würden in der Demenz beispielsweise eher aggressiv reagieren, wenn sie sich schon vor Ausbruch der Krankheit hätten aggressiv durchsetzen müssen, so Mächtlen: „Aber längst nicht alles erklärt sich aus der Biographie.“
Das kann auch der Neuropsychologe Wolfgang Kringler bestätigen. Als Lehrbeauftragter an der Uni Tübingen und Dozent an der Fachhochschule für Altenpflege Stuttgart setzt er sich unter anderem mit den körperlichen und psychischen Gründen auseinander, die sich hinter aggressivem Verhalten verbergen können. Die Ursachen sind vielfältig und auch für Angehörige oft schwer zu erkennen. Angefangen bei organischen Erkrankungen über die unterschiedlichen Folgereaktionen der Betroffenen bis hin zur eigenen Psychohygiene, die oftmals nicht mehr betrieben werden kann. „In vielen Fällen liegt eine Überforderung auf beiden Seiten vor, es fehlt das Verständnis für die Situation des anderen“, sagt Kringler. Die schwierige Lebenssituation sorgt bei den Betroffenen für Frustration, aus der zunächst Wut wird und schließlich Aggression. „Das Problem ist, dass Argumentieren und Diskutieren oft sinnlos ist und unnötig zu Überforderungen und schwer beherrschbaren Konfrontationen führt“, so Kringler, der unter anderem auch Ansprechpartner in der Gedächtnissprechstunde der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft ist.
Richtig kompliziert wird es für alle Beteiligten, wenn aggressives Verhalten eskaliert und zu einer Gefährdung von anderen Patienten und Pflegekräften führt oder auch eine Eigengefährdung vorliegt. Grundsätzlich hat die Rechtsprechung in solchen Fällen verschiedene Möglichkeiten der zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Unterbringung vorgesehen, die aber alle einer „sehr sorgfältigen und schwierigen Abwägung und Beurteilung“ bedürfen, so Professor i.R. Konrad Stolz, der als Unterbringungsrichter in zahlreichen solcher Fälle über beantragte Zwangsbehandlungen und Freiheitsentzug entschieden hat.
Schwierige Abwägung: Was ist noch zumutbar? Wo ist die Grenze?
Müssen Patienten und Pflegekräfte nächtliche Klopfgeräusche am Heizkörper und ständige Schreiattacken hinnehmen? Ist es zumutbar, immer wieder an den Haaren gezogen zu werden und Schlimmeres befürchten zu müssen? Letztlich sei es immer eine Abwägung der jeweiligen Güter, betont der Jurist, der unter anderem auch Dozent an der Hochschule Esslingen war und Mitglied der Beschwerdestelle der Psychiatrie in Stuttgart. „Zwar hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“, so Konrad Stolz. „Der rechtsstaatlich gebotene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Abwehr von Rechtsverletzungen geht aber zwangsläufig auf Kosten der Rechte anderer.“
Vor allem dieser rechtliche Aspekt wurde im Anschluss an die drei Fachvorträge diskutiert, ein Thema, das bewegt. Wer entscheidet, ob eine Fremd- oder Eigengefährdung vorliegt? Und wer beurteilt, ob diese Neigung erfolgreich therapeutisch behandelt wurde? Das sei Sache der Gerichte, so Stolz, die sich dabei auf Prüfungsverfahren, Zeugenvernahmen und Gutachten stützen würden. Aber auch die Pflegesituation selbst bewegte die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer, unter denen auch etliche Betroffene waren. Sie wisse nicht mehr weiter, was sie denn noch tun könne, wollte eine verzweifelte Frau wissen, die zuvor ihre persönliche Situation beschrieben hatte. Der Rat des Experten Maximilian Mächtlen: „Es gibt eine Vielzahl an professionellen Beratungen, die man sich auch ins Haus holen kann. Nutzen Sie das Angebot.“