Renten-Experte Martin Staiger stellte beim Treff Sozialarbeit seine Reformvorschläge vor, um Altersarmut zu bekämpfen
Beim Bundestagswahlkampf war einiges davon zu hören, doch mittlerweile ist es schon wieder still geworden um das Thema „Altersarmut“. Warum so viele Rentner arm sind, was für Renten-Legenden durch die Öffentlichkeit geistern und welche Reformen angegangen werden müssten, darum ging es beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 24. Oktober. „Alt und dann auch noch arm“ lautete der Titel, unter dem Martin Staiger referierte.
Den heutigen Rentnern geht es prima. Oder: Deutschland vergreist. Oder: Die Rente wird immer teurer. „Es gibt viele Mythen und Legenden über die Rentenversicherung“, sagte Martin Staiger, Theologe, Sozialarbeiter und mittlerweile selbständig als Autor und Publizist im Fortbildungsbereich tätig. Die Renten-Legenden beruhten auf falschen oder falsch zitierten Zahlen, auf Prognosen, die nicht unbedingt eintreten müssen, aus unkorrekten Rückschlüsse aus beidem. Und nicht zuletzt auf der Tatsache, dass mit der privaten Altersvorsorge viel Geld zu machen ist.
Reiche Rentner?
Immer wieder sei zu lesen: Der heutigen Rentnergeneration ginge es so gut wie nie zuvor. Nur rund 2,5 Prozent seien auf Grundsicherung im Alter angewiesen, der Umkehrschluss ergebe: den restlichen knapp 97,5 Prozent ginge es gut. Doch „das ist schlicht nicht so“, so Staiger. „Überlegen Sie sich mal, wer die meisten Pfandflaschen aus den Mülleimern zieht. Das sind heute immer mehr Rentner.“ Doch warum? Staiger nannte Gründe: Wer Grundsicherung bezieht, ist arm. Viele Rentner hätten zwar einen Anspruch auf Grundsicherung, machten ihn aber nicht geltend – und sind ebenfalls arm. Und manche Rentner haben laut Gesetz keinen Grundsicherungsanspruch, leben aber monatlich von vielleicht nur 850 Euro – und sind damit ganz gewiss auch nicht reich.
Deutschland vergreist – das sei eine weitere Legende, so Staiger. Man sage, ideal sei eine Bevölkerung mit vielen Jungen, wenig Alten und mittelvielen Mittelalten. Die Bevölkerungspyramide soll sich bis 2060 zum „Dönerspieß“ wandeln, auch „Urne“ genannt. Wirklich eine Katastrophe? „Man muss dazu sagen: Das ist nur der Fall, wenn zutrifft, was das Statistische Bundesamt voraussagt“, erklärte Staiger. Geburtenrate, medizinischer Fortschritt, Zuwanderung – eigentlich fast unmöglich, eine verlässliche Prognose zu stellen. Aktuell wandern zum Beispiel viele junge hochqualifizierte Menschen aus Südeuropa zu, was vor einigen Jahren keiner hätte voraussagen können.
Tatsächlich werden immer mehr Menschen immer älter. Von 1950 bis 2010 hat sich der Anteil der Menschen ab 65 Jahren in Deutschland fast verdreifacht. Doch schaue man sich das Bevölkerungsbild zusammen mit den unter 20-Jährigen und den 20- bis 65-Jährigen an, zeige sich eine organische Wellenbewegung, so Staiger. Es gibt weniger unter 20-Jährige als vor 60 Jahren – aber auch mehr „Mittelalte“. „Wichtig ist, dass die Basis der Erwerbstätigen zwischen 20 und 65 Jahren groß genug ist“, so Staiger. „Ökonomisch ist es fast egal, ob der erwerbstätige Teil der Bevölkerung Kinder finanzieren muss oder Alte.“ Will man also unbedingt Voraussagen wagen, bleibt festzustellen: Die Basis der Erwerbstätigen soll laut Statistischem Bundesamt auch 2030 noch vergleichsweise groß sein.
Vom Fortschritt abgehängt
In den letzten 20 Jahren sind alle Deutschen zusammen um ein Drittel reicher geworden. Auf die Rente verteilt wird davon allerdings relativ wenig. 2004 etwa waren es 11 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), 2012 nur noch 9,7 Prozent. Die Rente wird immer teurer? „Stimmt nicht, wir geben weniger aus“, widerspricht Staiger dieser Behauptung, die ebenfalls allerorten zu hören und zu lesen ist. „Der Rentenversicherungsbeitrag ist zurückgegangen.“ Der Wohlstand der Gesellschaft nimmt zu, doch davon wird weniger an mehr Rentner verteilt. „Wir haben die Rentner vom Fortschritt abgehängt. Das bedeutet Altersarmut“, so Staiger.
Rente mit 67, Abschaffung der Berufsunfähigkeitsrente, Kürzung der Erwerbsminderungsrenten, Abschaffung der Rentenversicherungsbeiträge für Langzeitsarbeitslose – das sind einige Rentenreformen der vergangenen Jahre. Die einzig positive, so Staiger, sei die Erhöhung der Rentenanwartschaften für Kindererziehungszeiten. Ansonsten gilt für die Reformen: „Bei den Ärmsten hat man am meisten gespart.“
Reformvorschläge
Was müsste getan werden, um das Rentenruder rumzureißen? Staiger hat sich in seinem Buch „Rettet die Rente. Wie sie ruiniert wurde und wie sie wieder sicher wird“ mit nötigen Reformschritten beschäftigt und stellte sie beim Treff Sozialarbeit kurz vor: Ein Mindestlohn von 8,50 Euro müsste eingeführt werden, für Mini- und Midi-Jobs volle Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, Rentenversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose wieder eingeführt und die Entgeltumwandlung abgeschafft werden. Etwa 10 Milliarden Mehreinnahmen ergäben sich dadurch. „Damit könnte man die Renten um 3,8 Prozent erhöhen“, so Staiger. Das wäre volkswirtschaftlich vernünftig, denn wer mehr habe, gebe auch mehr aus.
Auch die Grundsicherung müsse reformiert werden. Wer keinen Euro Rente bezieht, erhält aktuell in Stuttgart 802 Euro Grundsicherung. Wer 600 Euro Rente bekommt, erhält 202 Euro Grundsicherung – und damit genauso viel. „Da regt sich Widerstand“, so Staiger. „Man fragt sich, warum man weiterarbeiten soll, wenn man am Ende genau so dasteht. Da kann man auch mit 60 Jahren in Rente gehen.“ Sein Vorschlag: Eine Rente plus Grundsicherung, bei der man „mit mehr Rente etwas mehr hätte“. Bei seinem Reformvorschlag bekäme jemand mit einer Bruttorente von 0 Euro 884 Euro Grundsicherung, jemand mit einer Bruttorente von 670 Euro 418 Euro Grundsicherung und damit unterm Strich etwas mehr. „Natürlich ist das nicht der Wahnsinn, wenn man in Stuttgart etwa 1000 Euro im Monat hat“, räumte Staiger ein. „Aber man käme immerhin über die Armutsgrenze drüber.“ Und ja, man müsste noch aufs Amt und die Grundsicherung beantragen – aber diese sollte kein Almosen sein, sondern ein Rechtsanspruch.
Wie auch immer sie aussehen: Rentenreformen sind dringend nötig. „Es ist genug Wohlstand da, er wird nur falsch verteilt“, so Staiger. „Und es ist eine politische Frage, an wen er verteilt wird.“
Außerdem können Interessierte beim interaktiven Sozialmonitoring die Stuttgarter Sozialstrukturdaten in Karten auf Stadtbezirks- und Stadtteilebene abrufen:
www.stuttgart.de/sozialmonitoring