Einsatz von Psychopharmaka war Thema beim Treff Sozialarbeit – Fachveranstaltung zeigte Chancen und Grenzen
Der Einsatz von Medikamenten bei psychischen Krankheiten ist meist unerlässlich, aber er muss verantwortlich sein. Das haben Fachleute beim jüngsten Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) in Stuttgart jetzt deutlich gemacht. Angesichts der enorm gestiegenen Anwendung von Psychopharmaka haben die Experten einen verantwortlichen Umgang mit den Medikamenten gefordert. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass ergänzende Mittel und eine persönliche Begleitung für eine erhebliche Entlastung der Betroffenen führen und den Medikamenteneinsatz reduzieren können.
Markus Kiefer betonte, dass die Psychopharmaka ein „Geschenk Gottes“ sein können, wenn Patienten zum Beispiel wieder in der Lage sind, ohne Ängste oder schwere Depressionen zu leben. Für den Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Stuttgarter Rudolf-Sophien-Stift, einer Einrichtung der eva, „hat jedes Medikament seine eigenen Chancen und Risiken“. Dabei ist aus seiner Sicht der sorgsame Umgang wichtig, weil in manchen Fällen Vorsicht geboten sei vor einer Abhängigkeit.
Clopazin nannte er als Beispiel, das man nur einsetzt, wenn bereits mehrere Neuroleptika erfolglos genommen worden sind. Deshalb warnte er vor einem vorschnellen Absetzen und brachte Verständnis auf, dass Kollegen ebenfalls zurückhalten sind, das Medikament wieder abzusetzen, weil dies die Patienten gefährden würde. Unter dem Motto „Medikamente im Fokus – Chancen und Grenzen in der Sozialen Arbeit“ wurde deutlich, wie stark dies die psychosoziale Arbeit vor Ort beeinflusst.
Sozialarbeiter bezeichneten eine ordnungsgemäße Dokumentation des Einsatzes von Neuroleptika und Antidepressiva als wichtig. Bei manchen Medikamenten ist zum Beispiel eine regelmäßige Kontrolle des Blutbildes nötig. Das muss aber vor Ort bekannt sein. So müsse bei auftretendem Fieber schnell gehandelt werden. Bei Medikamenten, die den Dopaminhaushalt beeinflussen, kann dies bei Parkinson zu Halluzinationen führen; bei Schizophrenie kann sich ein Zittern wie bei Parkinson einstellen. Deshalb sind Informationen zu den eingenommenen Medikamenten wichtig in Einrichtungen; dazu zählen Wohnheime oder auch die Wärmestube der eva.
Kiefer wirbt für ergänzende Methoden, um die Medikamentendosen möglichst niedrig zu halten. Dabei setzt er auf Alternativen wie pflanzliche Mittel sowie Sonne, Bewegung, Waldspaziergänge oder eine die Botenstoffe des Gehirns unterstützende Ernährung.
Claudia Goepferich von der Beratungsstelle für junge Erwachsene der eva bestätigte, dass in Einrichtungen wie in der Sozialpsychiatrie und der Wohnungsnotfallhilfe Medikamente eine wichtige Rolle spielen. Sie hält viel von der persönlichen Betreuung als niederschwelliges Angebot für Betroffene.
Diese Form der Betreuung erläuterte Lisa Duminil, Genesungsbegleiterin bei der eva. Die 41-Jährige hat selbst unter psychischen Störungen gelitten und kann diese Erfahrungen in ihre Arbeit mit Patienten einbringen. Sie hat selbst Therapien gemacht, weiß auch, welche Wirkungen Medikamente haben können. Für sie ist die persönliche Zuwendung entscheidend, um die Medikation zu verringern und Lebensqualität zurückzugewinnen. Ihrer Ansicht nach sollten so viele Medikamente wie nötig und so wenig wie möglich verschrieben werden, damit in Krisen bei Bedarf die Dosis erhöht werden kann.
Genesungsbegleitung kann Einsatz von Medikamenten stark verringern
Als Alarmsignal betrachtet sie die Tatsache, dass die seit 1990 außerhalb von Kliniken auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen verordneten Tagesdosen von Antidepressiva um 800 Prozent und von Neuroleptika um 200 Prozent angestiegen sind. Dabei habe sich nicht nur gezeigt, dass diese Substanzen weniger wirksam seien als früher angenommen, sondern viele unerwünschte Nebenwirkungen hätten. Mit der Genesungsbegleitung kann nach Ansicht von Duminil der Trend gestoppt werden. Aus ihrer Praxis in der Gemeindepsychiatrie kann sie von erfolgreichen Begleitungen berichten. Als positiv würdigte sie, dass die Stadt Stuttgart acht Minijobs für Genesungsbegleitung finanziert. (rl)
Literaturtipps:
- Otto Benkert / Hanns Hippius (Hrsg.): Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie. Springer 2023
- Gerhard Gründer: Psychopharmaka absetzen? Warum, wann und wie? Urban und Fischer 2024
- Julia Ross: Was die Seele essen will. Klett-Cotta Verlag 2025