Erfahrung der Berater zeigt: Spielsucht nimmt seit der Wieder-Eröffnung der Casinos und Spielhallen zu
Stuttgart. Wer spielsüchtig ist und vor der verschlossenen Tür einer Spielhalle steht, empfindet – was: Panik? Druck? Nein, Erleichterung, hat Martin Epperlein vom Beratungs- und Behandlungszentrum für Suchterkrankungen der Evangelischen Gesellschaft (eva) erlebt. Als die Spielhallen während des Covid 19-Shutdowns geschlossen bleiben mussten, habe einer seiner Klienten gesagt: „Das ist so schön!“ Endlich hatte er am Ende des Monats noch Geld übrig. Inzwischen haben die Spielhallen wieder geöffnet, wenn auch mit Auflagen zu Abstands- und Hygieneregeln. „Wir haben zwar noch keine Zahlen ausgewertet, doch die tägliche Erfahrung zeigt, dass die Sucht wieder zunimmt“, berichtet Epperlein. Ein Grund dafür seien auch die aktuellen Arbeitsbedingungen: Wer in Kurzarbeit ist, hat mehr Zeit; wer zu Hause arbeitet, kann spielen, ohne die Entdeckung durch Kollegen fürchten zu müssen.
Menschen, die unter ihrer Spielsucht leiden, wissen zwar, dass sie Casinos oder Spielhallen meiden sollten. Doch vielleicht können sie ihr Geld zurückgewinnen, das sie in den vergangenen Monaten oder Jahren dort verloren haben? Oder endlich den großen Gewinn machen? Abstinenz ist schwierig. Auch deshalb, weil viele Spieler die Spielhalle als eine Art großes Wohnzimmer betrachten, in dem sie willkommen sind und sich erholen können: „Die Angestellten kennen mich, bieten mir etwas zu trinken an, sie sind nett zu mir.“ Andere Spieler, die Epperlein berät, sind während der Schließung der Casinos und Spielhallen aufs Online-Glücksspiel ausgewichen, das immer verfügbar war – „das wird bei uns in der Spielsuchtberatung vermehrt Thema“. Manche Männer und Frauen spielen sowohl online als auch terrestrisch, wie das Spielen vor Ort am Automaten genannt wird.
Tipps, um leichter abstinent zu werden - und zu bleiben
Jedes Jahr melden sich 250 bis 300 Frauen und Männer zwischen 18 und 80 Jahren bei der Suchtberatung der eva, weil sie Probleme mit dem Glücksspiel haben. Neun von zehn Betroffenen sind männlich. Aus dem persönlichen Umfeld sind es meistens Frauen, die Hilfe als mitbetroffene Angehörige suchen. Die Glücksspieler würden gerne die guten Gefühle, die das Spielen auslösen kann, behalten, ohne dabei weiter viel Geld zu verlieren. Gleichzeitig haben sie Angst, als Kranke abgestempelt zu werden, wenn sie sich Hilfe holen. „Die Leute freuen sich dann, dass wir sie nicht auf ihre Defizite reduzieren, sondern gemeinsam überlegen, was auch gut läuft in ihrem Leben. Wir sehen in erster Linie den Menschen und bieten eine wertschätzende Begegnung auf Augenhöhe an.“
Martin Epperlein, seine Kollegin und sein Kollege, die ebenfalls Spielsüchtige beraten, geben ihnen Tipps, um leichter abstinent zu werden – und zu bleiben. Wer terrestrisch spielt, kann sich in Casinos und bei Spielhallen sperren lassen, um sie nicht mehr betreten zu dürfen. Er oder sie sollte das Girokonto so einrichten, dass zunächst existenzsichernde Ausgaben wie die Miete davon abgehen, und dafür sorgen, dass das Konto nicht überzogen werden darf. Vielleicht kann eine Zeitlang jemand anderes die Geld-Geschäfte erledigen, etwa der Bruder oder die Partnerin. Wichtig ist, die Möglichkeiten einzuschränken, an Geld zu kommen: ohne Geld kein Glücksspiel.
Vielfalt der Zahlungswege einschränken
Auch wer online spielt, sollte die Vielfalt möglicher Zahlungswege einschränken, um nicht auf andere ausweichen zu können: die Kreditkarte kündigen, sich bei Online-Bezahlsystemen sperren lassen oder Limits setzen, bis zu denen eine Abhebung erlaubt ist. Wer am Computer sitzt, sollte den Bildschirm möglichst so hinstellen, dass andere die Inhalte darauf sehen können: „Das erleichtert es mir, abstinent zu bleiben, weil ich es – zumindest über dieses Medium – nicht mehr geheim halten kann“, erklärt Epperlein.
Wichtig ist, sich nicht nur einzuschränken, sondern gleichzeitig zu überlegen, warum und wann man spielt. Wenn das Spiel beispielsweise von Problemen im Beruf oder in der Partnerschaft ablenken soll, wird gemeinsam nachgedacht, wie diese Probleme angegangen werden können. Die Beratenen erinnern sich wieder, welche schönen Dinge es für sie gibt. Denn das Glücksspiel hat bisher ihren Tag – und oft auch viele Nachtstunden – bestimmt. Was sind die Vorteile eines Lebens ohne Glücksspiel? „Die Menschen machen sich auf den Weg, aktiv etwas zu ändern“, erzählt Epperlein. „Und plötzlich entdecken sie wieder Natur oder Sport: schöne Sachen, die sie lange vergessen hatten.“