Langzeitarbeitslose gehören zur Gruppe jener, die am seltensten zur Wahl gehen – und das, obwohl gerade sie ein großes Interesse daran haben müssten, dass sich an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Gesetzen etwas ändert. Franz Schultheis, Professor für Soziologie, hat zusammen mit Langzeitarbeitslosen, die bei der Forschung nicht nur befragt wurden, sondern auch als Interviewer eingebunden waren, Antworten darauf gefunden, warum Menschen mit Hartz-IV-Bezug nicht wählen gehen. Und gleichzeitig viel über die prekären Lebensumstände dieser stigmatisierten Menschen erfahren. Beim Treff Sozialarbeit am 13. Februar im Haus der Diakonie haben Forscher und Betroffene über die Ergebnisse berichtet, die auch in zwei Büchern publiziert wurden.
Ein Professor der Soziologie, der einen Langzeitarbeitslosen befragt, das ist nie ein Gespräch auf Augenhöhe. Dafür sind die Unterschiede zu groß. Nicht nur, was das Einkommen angeht, auch in Hinblick auf das eigenen Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Reputation. „Ein solches Interview gliche mehr einem Polizeiverhör“, sagt Franz Schultheis. Schließlich hätten viele Langzeitarbeitslose das Stigma des „Parasiten“ verinnerlicht, das ihnen Politik und Medien immer wieder zugeschrieben haben, und fühlten sich selbst schuldig an ihrer Situation. Schultheis war viele Jahre Leiter des Seminars für Soziologie an der Uni St. Gallen und hat dabei immer wieder erfahren, wie groß die Distanz zwischen einem Soziologen und den von ihm erforschten Milieus ist. „Man ist sich fremd“, sagt er. Beim Treff Sozialarbeit hat er ein Projekt über die Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler vorgestellt, bei dem diese Fremdheit umgangen wurde. Denn die Interviews mit Langzeitarbeitsarbeitslosen haben Männer und Frauen geführt, die selbst von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind.
Eine Gruppe ohne Lobby
Über 70 Interviews fanden deutschlandweit statt, bei der Entwicklung des Fragebogens waren Schultheis und weitere Wissenschaftler beteiligt. Sie haben die Interviewer auch im Hinblick auf die Gesprächsführung bei solchen qualitativen Interviews geschult. Die Idee für die Studie und auch für die besondere Vorgehensweise stammt aus der Denkfabrik des Sozialunternehmens „Neue Arbeit“. „Wir haben uns gefragt, warum es so viele Nichtwähler unter den Langzeitarbeitslosen gibt“, berichtet Marc Hentschke, der Geschäftsführer der Neuen Arbeit in Stuttgart. Er versteht es als Kern seiner Arbeit, die Lebenswirklichkeit von Langzeitarbeitslosen den Politikern aller Parteien nahezubringen. „Diese Gruppe hat überhaupt keine Lobby, und das spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Parlamente wieder“, sagt Hentschke. Genau darin liegt auch ein Grund, warum Hartz-IV-Empfänger in einem so hohen Maße den Wahlurnen fern bleiben: Sie haben das Vertrauen daran verloren, dass ihre Stimme für irgendjemanden von Interesse ist, hat die Befragung ergeben.
Die Verweigerung, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, ist aber durchaus eine politische Entscheidung, lautet ein weiteres Ergebnis der Studie, die unter dem Titel „Gib mir was, was ich wählen kann“ veröffentlicht worden ist. „Das abgekartete Spiel mach ich nicht mit“, lautet eine der Begründungen für die Wahlverweigerung. Ein anderes Argument ist: „Es gibt keine Partei, von der ich mich vertreten fühle.“ Die Interviewten erleben sich durch ökonomische Begrenzungen und durch den Verlust von Arbeit als ausgegrenzt und von jeglicher Teilhabe ausgeschlossen. Die These, dass die AfD besonders bei der Gruppe der sozial Abgehängten Erfolg hat, wurde durch die Forschung nicht bestätigt. „Es gibt keinen Automatismus zwischen Rechtspopulismus und sich sozial ausgegrenzt fühlen“, so Schultheis.
Wenn ein kaputter Kühlschrank zur Katastrophe wird
In den Interviews haben die Befragten nicht nur Auskunft über ihre Gründe gegeben, nicht wählen zu geben, sondern auch tiefe Einblicke in ihre Lebenswirklichkeit gewährt. Die Gespräche auf Augenhöhe zwischen Interviewern und Interviewten geben wieder, wie sich das Leben mit Hartz IV im Einzelfall anfühlt: Was es heißt, keine Rücklagen für Notfälle bilden zu können, wie ein kaputter Kühlschrank zur Katastrophe anwachsen kann, wie lebensfremd die Weiterbildungen sind, die von der Agentur für Arbeit verpflichtend angeboten werden. Schon die Befragung selbst war für viele Interviewten ein Ermutigung: „Endlich will jemand wissen, wie es mir geht“, lautet eine Aussage.
„Das ist eine Gesellschaftsdiagnose von unten, in der soziale Verhältnisse packend beschrieben werden“, sagt Schultheis über das zweite Buch, das aus der Befragung entstanden ist und den Titel „Unerhört. Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort.“ trägt. Die einzelnen Kapitel wurden jeweils von einem Wissenschaftler zusammen mit einem von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Interviewer geschrieben. Luise Janke ist eine der Autorinnen, die die Perspektive von Langzeitarbeitslosen aus eigener Erfahrung kennt und mit dem Buch auf Lesereise durch Deutschland ging. Sie erwarte von der Politik, aber auch von den Sachbearbeitern im Jobcenter Empathie und Gespräche auf Augenhöhe, sagt sie beim Treff Sozialarbeit. „Politiker sollten sich nicht nur kurz vor der Wahl zeigen.“ In den Büchern ist die anonyme Masse der 300.000 Langzeitarbeitslosen jedenfalls mit vielen individuellen Stimmen sichtbar geworden. (ds)
Bücher zur Studie:
„Gib mir was, was ich wählen kann.“ Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler/innen. Hrsg.: Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande, Sozialunternehmen Neue Arbeit gGmbH Stuttgart, Herbert von Halem, Köln 2017
Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort. Hrsg.: Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande, Sozialunternehmen Neue Arbeit gGmbH Stuttgart, Stuttgart 2019
(erhältlich bei der Neuen Arbeit)
Die Studie im Internet:
www.studie-nichtwaehler.de