Katholische und evangelische Telefonseelsorge in Stuttgart stellen Jahresberichte vor – seelsorgerliche Begleitung ist wichtige Ergänzung zum Gesundheitssystem – Gespräche dauern im Schnitt 18 Minuten
Stuttgart.Was die Statistiken der Krankenkassen schon lange vermelden, spiegelt sich auch bei der evangelischen und katholischen Telefonseelsorge in Stuttgart wider: Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen wächst. Viele Menschen, die in psychotherapeutischer oder psychologischer Behandlung sind, suchen darüber hinaus auch bei der Telefonseelsorge Hilfe – sei es nachts oder am Wochenende, wenn der behandelnde Therapeut nicht zu erreichen ist oder auch, weil sie das Bedürfnis haben, über die Behandlung zu reden. Die beiden Telefonseelsorge-Stellen, die in das Gesundheitssystem nicht eingebunden sind und auch keine Gelder der Krankenkassen erhalten, sehen sich als wichtige kirchliche Ergänzung.
Da ist die missbrauchte Frau, die sich nach außen ein scheinbar normales Leben aufgebaut hat, ihrem Beruf nachgeht, aber mit ungeheuren Ängsten im Kontakt mit anderen Menschen zu kämpfen hat: sie ruft die seit Jahren immer wieder bei der Telefonseelsorge an. Da ist der junge Mann, der wegen seiner Depression behandelt wird und der darüber reden möchte, ob er die Medikamente absetzen soll. Oder der ältere Mann, der jeden Tag aufs Neue überwältigt ist von erschreckenden Nachrichten irgendwo auf der Welt. Ihm hilft es, wenn ein Telefonseelsorger mit ihm ein Gebet spricht. Alle drei sind in Therapie, brauchen aber dennoch die Ansprache der Haupt- und Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge.
„Wir sehen uns als wichtige Ergänzung zum Gesundheitssystem. Wir sind nicht in den Strukturen verortet, bekommen keine finanzielle Förderung aus diesem Bereich. Das heißt, dass wir frei handeln können“, sagt Martina Rudolph-Zeller, die stellvertretende Leiterin der evangelischen Telefonseelsorge in Stuttgart. Der große Vorteil der Telefonseelsorge sei es, dass die Beratenden über die wichtige Ressource Zeit verfügten – anders als in Kliniken und Praxen, wo für Gespräche oft wenig Zeit bleibe. Die Telefonseelsorge sei ein „geduldiges System“, das sei ein weiterer Pluspunkt: „Viele Anrufer sind fordernd und in chronifizierten Zuständen verhaftet. Für einzelne Berater kann dies sehr anstrengend sein. Die Telefonseelsorge aber verfügt über eine hohe Geduld, da die Anrufer immer wieder bei anderen Gesprächspartnern herauskommen. Diese systemische Geduld hilft, die Menschen über eine lange Zeit begleiten zu können.“ Die Anrufer seien dankbar, dass ihnen in der Not des Augenblicks jemand zuhöre, ohne sie zu korrigieren oder zu drängen.
Im Gesundheitssystem verloren
Den Weg zur Telefonseelsorge finden auch viele psychisch kranke Menschen, die sich im Gesundheitssystem verloren fühlen. Sie erleben das System als mangelhaft, unübersichtlich, bekommen wenig Information oder bleiben nach Jahren der Behandlung irgendwo auf der Strecke. „Wir erleben Menschen mit Burnout, die teilweise über Monate krankgeschrieben sind, ohne dass etwas passiert. Sie haben keine Therapie, bekommen vielleicht Antidepressiva und haben vielfach wenig Ahnung, was für sie möglich und nötig wäre“, erklärt Thomas Krieg, der Leiter der katholischen Telefonseelsorge Ruf und Rat.
Andere Anrufende seien austherapiert und bekämen nur noch eine minimale ärztliche Betreuung. Auch für diese Menschen sei es wichtig, sich zu jeder Zeit und in jeder Krise an die Telefonseelsorge wenden zu können. Klar sei aber auch: „Wir machen keine Therapie, sondern bieten seelsorgerliche Begleitung. Das kann für eine Therapie unterstützend wirken. Immer aber sind wir darum bemüht, dass die Anrufe bei uns nicht kontraproduktiv zur Therapie sind“, erklärt Thomas Krieg. Bei Bedarf vermitteln die Telefonseelsorger auch an andere Hilfsangebote weiter, etwa an Kliniken oder Gemeindepsychiatrische Zentren.
Daueranrufer werden auf dieselbe Stelle geschaltet
Bei den beiden Telefonseelsorgestellen arbeiten insgesamt 191 Frauen und Männer ehrenamtlich mit. Diese sind es, die neben den vier hauptamtlichen Fachkräften die Erreichbarkeit rund um die Uhr überhaupt erst ermöglichen. Die Ehrenamtlichen werden in qualifizierten, längeren Schulungen auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Entgegen genommen haben die Haupt- und Ehrenamtlichen in Stuttgart im Jahr 2017 insgesamt 44.140 Anrufe, im Jahr zuvor waren es noch 51.651 gewesen. Der Rückgang erklärt sich aus zwei technischen Umstellungen. Um eine Art Telefon-Hopping zu verhindern, werden Daueranrufer seit dem vergangenen Jahr auf dieselbe Stelle geschaltet. „Wir hatten Anrufer, die sich am Tag mehr als 80mal bei uns gemeldet haben und tatsächlich an verschiedenen Stellen am Tag nahezu 20 Gespräche erhalten haben. Das ist jetzt nicht mehr möglich.“, sagt Krischan Johannsen, der Leiter der evangelischen Telefonseelsorge. Neu ist auch, dass alle mobilen Anrufer inzwischen geroutet und regional zugeordnet werden. Auch dies hat zu einer Verringerung der Anrufer in Stuttgart geführt. Ein positiver Effekt dieser Entwicklungen ist: Die Gespräche dauern im Schnitt 18 Minuten und damit zwei Minuten länger als noch im Jahr zuvor – was bei den Ehrenamtlichen zu einer größeren Zufriedenheit führt. Gestiegen ist die Zahl der Chatberatungen und zwar von 617 im Jahr 2016 auf 995 Kontakte im vergangenen Jahr. „Wenn wir einen Chattermin anbieten, ist dieser immer sofort vergeben“, berichtet Bernd Müller von Ruf und Rat.