Gemeindepsychiatrische Zentren haben auch in Zeiten der Schließung den Kontakt zu ihren Klientinnen und Klienten gehalten
Seit dem 2. Juni öffnen die Tagesstätten in den Gemeindepsychiatrischen Zentren unter den geltenden Hygieneregeln wieder Schritt für Schritt. Die Träger blicken auf die Zeit der Einschränkungen zurück. Das Motto der Mitarbeitenden in den Gemeindepsychiatrischen Zentren war in dieser Zeit etwas verändert. Statt „Wir sind für Sie da“ hieß es nun: „Wir sind für Sie da in neuer Form“. So fasst Reiner Neuschl, Fachbereichsleiter Soziale Dienste, Koordinator Gemeindepsychiatrische Zentren am Klinikum in Stuttgart, die Arbeit der Zentren in den vergangenen Wochen zusammen.
Die acht Gemeindepsychiatrischen Zentren in Stuttgart unterstützen, betreuen und begleiten wohnortnah psychisch kranke Erwachsene mit Fachdiensten und offenen ambulanten Angeboten. Träger dieser Zentren sind der Caritasverband für Stuttgart, die Evangelische Gesellschaft (eva) und das Klinikum Stuttgart. In den Zentren gibt es Beratungsangebote, offene Freizeitangebote, die Möglichkeit, stundenweise zu arbeiten, sowie Wohnangebote. Die Menschen, die hierher kommen, werden professionell unterstützt und haben einen Ort, an dem sie sich mit anderen treffen und austauschen können. Es sind Orte mit offenen Türen für die Menschen. Als Corona kam und die offenen Türen der Zentren eigentlich zugehen sollten, wurde das Telefon für Reiner Neuschl sowie seine Kolleginnen und Kollegen zum wichtigsten Arbeitsmittel.
„Die Hauptaufgabe war und ist, an unseren Klientinnen und Klienten dran zu bleiben“
Das gilt auch für die Mitarbeitenden der anderen Gemeindepsychiatrischen Zentren in Stuttgart. Iris Maier-Strecker, Abteilungsleiterin der Dienste für seelische Gesundheit der eva, und Dr. Klaus Obert, Bereichsleiter für Sucht- und Sozialpsychiatrie beim Caritasverband für Stuttgart, berichten davon, dass alles dafür getan wurde, den Kontakt zu ihren Klientinnen und Klienten zu halten. „Wir haben alle durchtelefoniert“, erzählt Iris Maier-Strecker. Falls Menschen mehr benötigt haben als ein Gespräch am Telefon, haben die sozialpsychiatrischen und gerontopsychiatrischen Dienste auch Hausbesuche gemacht – „natürlich unter Beachtung der Hygienevorschriften“.
Monatsprogramme in den Tagesstätten der Gemeindepsychiatrischen Zentren wurden umfunktioniert und zu kleinen Sonderausgaben. Hier gab es nun neben Infos zu Corona und den damit verbundenen Regeln und Hygienevorschriften auch Kochrezepte oder Tipps für ein Bewegungsprogramm zu Hause. Die „tollen Kolleginnen und Kollegen“ seien mit viel Energie die schwierige Situation angegangen, um die psychisch kranken Menschen weiterhin in ihrem Sozialraum zu begleiten und Hilfen zur Verfügung zu stellen, sagen die Verantwortlichen der Gemeindepsychiatrischen Zentren.
Dazu kam der zuvor schon gewachsene „gute Zusammenhalt zwischen den Zentren“. Was die Gemeindepsychiatrischen Zentren und ihre Mitarbeitenden auch vor Corona schon auszeichnete, hat sich in der Krise bewährt: „Dass wir schon immer sehr flexibel arbeiten und immer der individuelle Bedarf der Menschen, die wir unterstützen, im Vordergrund steht.“
Gerade in Zeiten von Corona sind enge und verlässliche Beziehungen wichtiger denn je
Kritisch sehen die Fachleute die lange Dauer der Einschränkungen. So haben die Kinder psychisch kranker Eltern weniger Kontakte nach außen. Damit gibt es auch weniger Menschen um sie herum, die hinschauen und sie, wenn nötig, in schwierigen Situationen unterstützen können. Gelang es meist noch sehr gut, den Kontakt zu den bekannten Klientinnen und Klienten zu halten, so haben alle Zentren erfahren, dass zu Anfang der Krise weniger Menschen den Kontakt neu gesucht haben. Dabei sind gerade in Zeiten von Corona enge und verlässliche Beziehungen wichtiger denn je. Dr. Klaus Obert beobachtet bei vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie Corona deren Lebenssituation beeinflusst: „Menschen, die sich schon immer zurückgezogen haben, tun das jetzt eher noch mehr. Depressionen scheinen zuzunehmen, möglicherweise auch das Suizid-Risiko.“
Prof. Dr. Dr. Martin Bürgy, Ärztlicher Direktor und Leiter des Zentrums für Seelische Gesundheit am Klinikum Stuttgart, teilt diese Befürchtungen größtenteils: „Depressive Syndrome nehmen zu, ebenso die Intensität psychischer Störungen. Eine Zunahme der Suizidalität ist bisher nicht gesichert.“ Die veränderten sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, die einengenden Hygienemaßnahmen oder die Sorge um den Arbeitsplatz belasten Menschen in Krisensituationen doppelt. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, hat Angst um seine Existenz: „Eine Angst, die sich bei Depressiven zu Verarmungsängsten bis hin zum Verarmungswahn steigern kann.“
„Das waren die einschneidendsten Veränderungen, die ich in meiner Arbeit jemals erlebt habe“, sagt Prof. Bürgy beim Blick zurück auf die vergangenen Monate. Der Fokus, so Prof. Bürgy, habe sich „von der Psychiatrie auf die Hygiene verschoben.“ Doch die psychiatrische Versorgung der Menschen in Stuttgart habe sich auf die veränderten Rahmen- und Arbeitsbedingungen, die Corona vorgibt, gut eingestellt. Die Versorgung der Menschen in der Klinik wie auch in den Gemeindepsychiatrischen Zentren in Stuttgart konnte aufrecht erhalten werden – wenn auch unter deutlich veränderten Bedingungen.
Wie es den psychisch kranken Menschen in der Gesellschaft geht, sage viel über den Zustand dieser Gesellschaft aus, so Prof. Bürgy: „Sie sind wie ein Wasserstandsmelder.“ Wichtig für ihn wie auch für seine Kolleginnen und Kollegen ist, nun sehr wach und sensibel zu sein: „Die Corona-Krise spitzt die Symptome zu“, sagt er. „Wir müssen jetzt besonders vorsichtig und wachsam mit unseren Patienten sein“.