Fachtag zur Ethik in der Sozialpsychiatrie – Evangelische Hochschule Ludwigsburg stellt Studie zu eva-Projekt vor – Willkommener Austausch bei ethischen Zielkonflikten
Stuttgart. Ethische Herausforderungen – für Klaus Käpplinger, den Vorstandsvorsitzenden der Evangelischen Gesellschaft (eva), gehören sie zum Alltag in der Sozialpsychiatrie. „Wir wollen den uns anvertrauten Menschen zu einem selbstbestimmten Leben verhelfen. Doch wenn Menschen betreut und begleitet werden, gibt es immer wieder Situationen, in denen ihre Würde durch Fremdbestimmung bedroht ist“, weiß der Pfarrer. Oft verläuft nur ein schmaler Grat zwischen dem Recht der Klienten, über sich selbst zu bestimmen, und drohender Selbstgefährdung. Seit zwei Jahren gibt es bei der eva eine Methode, schwierige Entscheidungen im Umgang mit den betreuten Personen zu erleichtern: die ethische Fallarbeit. Die Evangelische Hochschule Ludwigsburg hat untersucht, wie die Arbeit der Ethikberaterinnen und -berater ankommt. Die Ergebnisse der Studie hat sie jetzt bei einem Fachtag vorgestellt.
Die ethische Fallarbeit wurde von Mitarbeitenden des Sozialpsychiatrischen Wohnverbunds der eva angestoßen. Drei Mitarbeitende des Wohnverbunds wurden speziell für Ethikfragen geschult. Sie kommen auf Anfrage zu einer Teamsitzung und unterstützen ihre Kolleginnen und Kollegen dabei, bei schwierigen Fragen einer Lösung näher zu kommen. Weil sie nicht unmittelbar zum anfragenden Team gehören, haben sie einen Blick von außen. Dadurch können sie den Team-Mitgliedern helfen, die eigenen, meist unbewusst zugrundeliegenden ethischen Werte zu erkennen und den moralischen Kompass auf eine Lösung hin zu justieren.
Wie dieses Konzept angenommen wird, hat ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg begleitend untersucht, die Lechler Stiftung hat die Forschung finanziert. Prof. Dr. Annette Noller, die Leiterin des Evaluationsprojekts, hat die Ergebnisse beim Fachtag vorgestellt. Die Pfarrerin befasst sich selbst seit über zwanzig Jahren mit ethischen Fragestellungen.
Von Februar 2018 bis Oktober 2019 hat das Forschungsteam Daten gesammelt und ausgewertet – mit Fragebögen, bei Gruppendiskussionen, mit Einzelinterviews und bei Fachtagen. Was Noller am meisten überrascht hat, war die hohe Arbeitszufriedenheit von 98 Prozent der knapp 60 Antwortenden im ersten Onlinefragebogen. Diese hohe Arbeitszufriedenheit und Sinnerfüllung in der sozialpsychiatrischen Arbeit sei die eine Seite, so Noller. Auf der anderen Seite stünden hohe Belastungen der Mitarbeitenden im Blick auf die Gesundheit und die soziale Ausgrenzung ihrer Klientinnen und Klienten. Die Betreuerinnen und Betreuer arbeiten bei der eva im Ambulant Betreuten Wohnen mit insgesamt 350 Plätzen und in den geschlossenen Wohnheimen mit etwa 40 Plätzen. „Alle haben die Frage positiv beantwortet, ob sie ihre Arbeit im Sozialpsychiatrischen Wohnverbund als sinnvoll empfinden“, sagte Noller.
Neutrale Haltung bei Wertekonflikten
Die Frage nach Wertungen und Haltungen im Arbeitsumfeld ist für die Mitarbeitenden zentral, auch das hat die Befragung ergeben. Die Arbeit der drei ausgebildeten Ethikberater war bei schwierigen Entscheidungen gefragt. Das war insbesondere bei gesundheitlichen Risiken für die seelisch erkrankten Klientinnen und Klienten der Fall. Dann musste geklärt werden, ob die Selbstbestimmung der Klienten eingeschränkt werden muss, um ihr Leben und gesundheitliches Wohlergehen zu schützen. In anderen Fällen gab es zwar keinen Konsens, aber dennoch ein besseres gegenseitiges Verständnis unter den Kollegen in den Teams. Themen waren zum Beispiel die Medikamentengabe oder der Umgang mit schwer selbst schädigendem Verhalten. „Nur die schwierigen Fälle wurden bei den insgesamt
16 Fallberatungen besprochen“, berichtete Noller. Die Befragten haben positiv erlebt, dass die Ethikberater nicht Teil des Teams sind und deshalb eine neutrale Haltung bei Wertekonflikten einnehmen. „Wir fühlen uns durch die Ethikberatung entlastet und achten mehr aufeinander“, so die Einschätzung eines Interviewten.
„Die Fallberatung kann helfen, die Würde der Klientinnen und Klienten besser in den Blick zu nehmen“: Dieser Aussage haben alle Befragten im zweiten Onlinefragebogen zugestimmt. Sie haben diese Beratungen überwiegend als „wertschätzenden Austausch im Team“ erlebt. „Die Ziele, die sich die eva mit der Einführung der ethischen Fallarbeit gesteckt hat, wurden voll erreicht“, lautet das Fazit von Annette Noller. Sie schätzt diese Methode als sehr effizient ein, weil sie von den Beraterinnen und Beratern „niedrigschwellig“ mit Fortbildungen erlernt werden kann und gleichzeitig eine hohe Wirkung zeigt, so die Ethikexpertin.
Für Heinz Gerstlauer, Vorstand der Lechler Stiftung, ist die Methodik der Fallarbeit ein Mittel des Qualitätsmanagements – und deshalb unverzichtbar. Dass auch nach einer Fallberatung Zweifel bleiben: das ist für die Ethikberater Doris Haller und Thomas Gorny kein Schwachpunkt, sondern Teil des Konzepts. „Es geht um den Austausch und nicht um Handlungsanweisungen“, sagte Gorny in der Podiumsdiskussion beim Fachtag. Er wies daneben darauf hin, dass auch die Ethikberater an ihre Grenzen kommen können, weil die Entscheidungen, die sie zu treffen haben, sehr komplex sind. Die Berater bräuchten deshalb auch selbst Unterstützung, zum Beispiel Supervision.
Auch Harald Metzger von der Initiative Psychiatrie-Erfahrene Stuttgart schätzt, dass die Betreuenden im Sozialpsychiatrischen Wohnverbund sich mit ethischen Fragen auseinandersetzen. Er würde den Kreis der Teilnehmer bei einer Fallberatung jedoch erweitern: „Hier sollten auch Betroffenenvertreter mitsprechen“, forderte er. Der Vertreter der Psychiatrieerfahrenen wünscht sich, dass die ethische Fallberatung auch für stationäre Bereiche der Sozialpsychiatrie angewendet wird. Auch die Anliegen von Vertretungen der Angehörigen sollten, so Metzger, in die ethische Fallberatung einbezogen werden.