Neues Wohnprojekt der eva für schwer belastete alleinerziehende Frauen mit Fluchterfahrung
Stuttgart. Sie haben in Nigeria und Kamerun schwere Gewalt an Körper und Seele erlebt. Zwar haben sie die Flucht nach Deutschland geschafft, doch sie sind noch in Ängsten gefangen. Seit Dezember 2020 leben vier besonders schutzbedürftige alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern in zwei Wohngemeinschaften, die die Evangelische Gesellschaft (eva) neu gegründet hat. Im „Wohnprojekt Wichernhaus“ werden sie von einer Pädagogin sowie ehrenamtlich tätigen Frauen des Vereins Suza unterstützt. Ziel ist, dass die Frauen nach zwei Jahren selbstständig wohnen, ihren Alltag eigenständig bewältigen und eine Arbeit gefunden haben. Die sechs Kinder sollen dann in Kitas und Schulen gehen und sich dort eingelebt haben. Das Projekt wird von der Vector Stiftung gefördert.
Das Ankommen im Stadtteil Kaltental klingt – nach all dem, was die Frauen hinter sich haben – eher unspektakulär. Den Frauen werden Deutschkurse vermittelt, sie erfahren etwas über die Hausregeln oder Mülltrennung, machen Arztbesuche und erkunden die Angebote im Quartier wie beispielsweise Jugendfarmen oder Beratungsmöglichkeiten. Darüber hinaus lernen sich in dieser Phase die Bewohnerinnen und die Kinder gegenseitig kennen. Und sie begegnen den Frauen, die sie unterstützen, damit sie zu diesen Vertrauen fassen können.
Bewohnerinnen lernen, Alltag selbst zu meistern
Wenn die WG-Bewohnerinnen in ihrem neuen Zuhause angekommen sind, können sie ein Praktikum oder eine Ausbildung machen, soweit das in Corona-Zeiten möglich ist. Vorgesehen ist, ihnen Arbeits-Möglichkeiten im benachbarten Wichernhaus der eva anzubieten. Hier finden alleinstehende arme Menschen eine menschenwürdige Heimat im Pflegeheim.
In der letzten Phase des Projekts werden die Bewohnerinnen bis Ende 2022 darauf vorbereitet, ihren Alltag selbst zu meistern. Auch danach können sie in ihrer Wohngemeinschaft bleiben, der Mietvertrag ist nicht daran geknüpft, dass sie sozialpädagogisch begleitet werden. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Vereins Suza wollen sie dann weiterhin unterstützen.
„Die Frauen und Kinder fühlen sich in ihrem neuen Zuhause sehr wohl und sind gut angekommen“, berichtet Irini Hatzipanagiotou vom Internationalen Beratungszentrum der eva, die das Projekt im Wichernhaus pädagogisch eng begleitet. „Sehr schön zu beobachten ist, wie die Frauen in den Wohngemeinschaften zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen.“ Ob bei der Kinderbetreuung, bei Arbeiten im Haushalt oder bei persönlichen Problemen: Die Frauen würden voneinander profitieren, erzählt Irini Hatzipanagiotou. Das sei auch bei den Kindern so: Sie hätten durch die Wohngemeinschaften trotz des Lockdowns Kontakt zu Gleichaltrigen und Spielgefährten.
Endlich Privatsphäre
Die wohl größte Herausforderung ist für die Mitarbeiterinnen der eva und des Vereins Suza, beim Unterstützen der Familien die richtige Balance zu finden: Sie ausreichend zu unterstützen, aber auch nicht überzuversorgen. Deshalb stärken sie den Eigenantrieb der Bewohnerinnen, „das nennen wir Empowerment“, erklärt die Fachfrau. Was das konkret bedeute? „Wir sprechen mit den Frauen und Kindern über ihre besonderen Herausforderungen. Und das möglichst auf deutsch, um ihnen die Angst davor zu nehmen – Fehler sind okay. Ein anderes Beispiel: Ich biete bei einem Problem keine fertige Lösung an, sondern frage erst einmal: Wie könntest du dir eine Lösung vorstellen? Damit lernen die Frauen, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Und ihre Familien werden auf ihre Zukunft in Deutschland vorbereitet.“ Dazu sei es unter anderem wichtig, den Frauen die vorhandenen Hilfsangebote des Stuttgarter Netzwerkes nahe zu bringen.
Schwierig sei der unsichere Aufenthaltsstatus von manchen Frauen, sagt Irini Hatzipanagiotou. Und natürlich würden alle auf eine Zeit ohne Einschränkungen durch Corona hoffen, damit die Deutschkenntnisse der Frauen und Kinder besser vorankommen, weil sie auch mit anderen Menschen Kontakt bekommen können. Für die Familien in den Wohngemeinschaften hat sich aber jetzt schon viel verbessert. „Seit ich in dieser WG wohne, habe ich eine Privatsphäre – zum ersten Mal nach langer Zeit“, berichtet eine der Bewohnerinnen. „Mein Schlaf ist viel besser, seit ich ein eigenes Zimmer habe. Davor habe ich mit meinen beiden Kindern in einem Zimmer gewohnt und geschlafen. Die beiden – sie sind 8 und 15 Jahre alt – haben in diesem Zimmer auch gelernt. Jetzt kann ich mich mittags mal für eine kleine Pause zurückziehen. Und meine Kinder haben ihren eigenen Raum und können sich besser entfalten.“ (uli)