Keine Wohnung, keine Arbeit, krank: Projekt „Respekt“ unterstützt seit einem Jahr junge Menschen, die unter hohem Druck stehen
Stuttgart. Marie (Name geändert) wollte nach dem Abitur Pflegefachkraft werden, sie hat ihre Ausbildung aber nie beendet. Stattdessen hat sie als Kellnerin und Barfrau auf Minijob-Basis in einem Club gearbeitet. Gelebt hat sie vor allem von ihrem Trinkgeld. Für eine eigene Wohnung hat das Geld in den Jahren, seit sie in Stuttgart lebt, nie gereicht. Die meiste Zeit hat sie bei Freundinnen und Freunden auf der Couch geschlafen, schließlich ein Zimmer in einer WG ergattert – doch auch dort hatte sie wenig Privatsphäre, es gab viele Besucher. Mit Beginn der Pandemie hat sie auch noch ihren Job in der Gastro verloren. Ohne eigene Wohnung, ohne Job, nicht in Stuttgart gemeldet: So war Maries Situation, als sie im April 2021 zu „Respekt“ gekommen ist. Dieses Projekt führt die Evangelische Gesellschaft (eva) seit Juni 2020 gemeinsam mit der Caritas im Auftrag des Jobcenters Stuttgart durch. Und das an drei Standorten: im Stuttgarter Norden, in Zuffenhausen und in Wangen.
Marie ist einer von zur Zeit rund vierzig jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, die von zehn sozialpädagogischen Fachkräften von „Respekt“ an den drei Projekt-Standorten unterstützt werden. All diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben eines gemein: Sie beziehen Arbeitslosengeld II oder könnten das tun, wenn sie einen Antrag gestellt hätten. Sie wohnen in Stuttgart oder haben vor, sich hier als wohnhaft zu melden. Sie entscheiden selbst, am Projekt teilzunehmen. Und sie setzen ihre Ziele, die sie im Projekt zusammen mit den sozialen Fachkräften bearbeiten, selbst.
Ihre Beraterin gibt Marie immer wieder das Gefühl, dass sie nicht versagt hat
Die meisten jungen Menschen kommen, wenn der Druck für sie schon sehr hoch ist. Sie haben hohe Schulden oder erwarten Strafen, ihnen droht Wohnungsverlust oder sie haben schon keinen festen Wohnsitz. Viele sind außerdem krank, mal körperlich, mal psychisch. Bei Marie kamen gleich mehrere Krankheiten zusammen: Sie hatte Krebs, leidet unter Long Covid, nutzt missbräuchlich Alkohol und ist traumatisiert, weil sie sexuelle Gewalt erlitten hat. Zudem hatte sie im Lauf der Jahre 3.000 Euro Schulden angehäuft.
Ihre Beraterin beim Projekt „Respekt“ hat sie dazu motiviert, zwei Entgiftungen zu machen. Sie unterstützt sie bei Kontakten mit der Krankenkasse, begleitet sie zur Schuldnerberatung, unterstützt sie bei Behördengängen oder beim Kontakt zu Beratungsstellen. Sie hat ihr geholfen, sich in Stuttgart anzumelden, erinnert sie in gesundheitlich schlechten Phasen an Termine. Und sie gibt Marie immer wieder das Gefühl, dass sie nicht versagt hat, wenn etwas nicht wie geplant läuft – ob das ein Rückfall in ihr Suchtverhalten ist oder Rückschläge bei Versuchen, eine Arbeit zu finden.
Individuelle Ziele der jungen Leute sind wichtig
Marie ist über das Jugendbüro Echterdingen, wo sie vorher Hilfe erhalten hat, zu „Respekt“ gekommen. Andere junge Menschen finden über das Netzwerk des Projekts zu einem der drei Standorte – zum Beispiel über verschiedene Hilfen für junge Menschen, die die eva und die Caritas anbieten, über die Zentrale Schuldnerberatung oder über Jugendhäuser. In Zuffenhausen und Wangen gehen die sozialen Fachkräfte von „Respekt“ mit Streetwork gezielt auf junge Menschen zu und stellen ihnen das Angebot vor. Auch das Jobcenter verweist Klientinnen und Klienten auf das Projekt, wenn die persönlichen Ansprechpartnerinnen und -partner den Kontakt zu diesen verlieren. Und schließlich erzählen junge Menschen, die gute Erfahrungen mit „Respekt“ gemacht haben, ihren Freunden, Bekannten oder Geschwistern davon. Die Mund-zu-Mund-Propaganda motiviert dann auch andere, mit Hilfe der Projekt-Mitarbeitenden ihre Schwierigkeiten anzugehen.
Die sozialen Fachkräfte sichern die materielle Grundversorgung ihrer Klientinnen und Klienten und leiten realistische Schritte in die Wege, um ihre Schwierigkeiten zu bearbeiten. Wichtig sind dabei die individuellen Ziele der jungen Leute. Die meisten werden in dem Projekt sechs Monate bis ein Jahr unterstützt, manche auch länger. In dieser Zeit haben sie etwa ein- bis dreimal pro Woche Termine mit den „Respekt“-Mitarbeitenden. Die Unterstützung ist für die jungen Menschen kostenlos, sie wird vom Jobcenter finanziert. Langfristiges Ziel ist, dass sie auf eigenen Beinen stehen und Perspektiven für sich entwickeln, dass sie sich beruflich qualifizieren oder eine Arbeit finden.
Marie sammelt Berufserfahrungen, bis eine Ausbildungs-Bewerbung Erfolg hat
Auch Marie hat ein Ziel: Sie möchte Veranstaltungskauffrau werden. Dann könnte sie in Zukunft einen Club leiten oder das Tour-Management einer Band übernehmen. Weil Ausbildungsstellen zur Veranstaltungskauffrau während der Pandemie kaum vorhanden sind, unterstützt „Respekt“ die heute 23-Jährige bei der Suche nach Nebenjobs und Praktikumsstellen im Veranstaltungsbereich. So kann sie schon einmal Berufserfahrung sammeln, bis eine Ausbildungs-Bewerbung Erfolg hat. Zur Zeit überlegt sich Marie, nach Dänemark auszuwandern. Auch für diesen Wunsch findet sie bei ihrer Beraterin offene Ohren: Die beiden besprechen Pro und Contra der Pläne, erörtern Hürden – und wie diese vielleicht gelöst werden könnten. Die junge Frau sagt heute: „Ich bin dankbar für das Projekt, weil da jemand ist, die mir wirklich helfen möchte. Und die mir respektvoll begegnet.“ (uli)