Treff Sozialarbeit der eva am 27. November gab fachliche und persönliche Einblicke in die Persönlichkeitsstörung
Sie sind wie ein unberechenbarer Vulkan, der jeden Moment ausbrechen könnte: Menschen mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden unter extremen Stimmungsschwankungen. Scheinbar aus dem Nichts kann bei ihnen eine unbändige Wut hochkochen. Viele verletzen sich selbst, um den inneren Druck loszuwerden. „Ich war mir selbst völlig ausgeliefert“, beschreibt Carola Groß (Name geändert) die Zeit vor ihrer Therapie. „Ich konnte mich selbst nicht mehr aushalten.“ Viel habe nicht gefehlt und sie hätte sich das Leben genommen. Nach sieben Jahren intensiver Behandlung geht es der 39-Jährige heute so gut, dass sie offen über ihre Erkrankung sprechen kann. Beim Treff Sozialarbeit der Evangelischen Gesellschaft (eva) am 27. November gab sie sehr persönlich Einblicke in ihr Innenleben als Borderline-Betroffene. Die fachliche Sicht ergänzten die Rehabilitationspsychologin und (Trauma-)Therapeutin Simone Kurth sowie die Psychologin Magdalena Werner. Gemeinsam machten sie deutlich: Bei der komplexen Persönlichkeitsstörung gibt es auf viele Fragen keine einfachen Antworten.
Jeder ist mal traurig, wütend oder hat einen schlechten Tag. Gesunde Menschen wirft Alltagsfrust normalerweise nicht aus der Bahn. Negative Gefühle halten sich in erträglichen Grenzen und schwächen sich irgendwann wieder ab. Bei Borderline-Betroffenen ist das anders: Ihnen fällt es schwer, die eigenen Gefühle überhaupt richtig wahrzunehmen und einzuordnen. Sie sind daher innerlich oft extrem angespannt. Minimale Auslöser reichen dann, um das emotionale Gleichgewicht völlig aus den Fugen zu heben. Von einem Moment auf den anderen werden sie innerlich überschwemmt von Wut, Angst oder sogar Panikattacken. Außenstehende empfinden diese Gefühlsausbrüche oft als unverhältnismäßig und können sie nicht nachvollziehen. Weitere Symptome sind die Angst vor dem Alleinsein, Selbstverletzungen, Suchtmittelmissbrauch. Dahinter verbirgt sich in der Regel eine massive Verunsicherung über die eigene Identität.
"Ich bin vollkommen in meinem Gegenüber aufgegangen"
Auch Carola Groß hat viele Jahre gebraucht, bis sie sagen konnte: „Ja, ich bin Carola.“ Damit meint sie auch ihre Identität als Frau. Denn die eigene Weiblichkeit hatte die 39-Jährige lange Zeit unterdrückt. Sie trug kurze Haare, kleidete sich in weite Männerklamotten und wollte sich sogar umoperieren lassen. „Erst in der Therapie habe ich verstanden, dass ich alles Weibliche in mir nach außen projiziert habe.“ Wer sie ist, welche Meinung sie hat, wo ihr Standpunkt ist – all das konnte Carola Groß lange nicht beantworten. „Ich bin vollkommen in meinem jeweiligen Gegenüber aufgegangen“, beschrieb sie diese Identitätslosigkeit. „Wenn ich an einem Tag mit zehn verschiedenen Menschen gesprochen habe, dann war ich zehnmal jemand anders.“
„Für Außenstehende ist das, was die Betroffenen durchmachen, schwer nachvollziehbar – auch für viele Fachleute“, sagte die Rehabilitationspsychologin Simone Kuhrt. Den ständigen Kampf, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, machte sie mit einem Bild anschaulich: „Borderline-Patienten haben einen sehr starken Motor – wie ein Porsche, aber Bremsen wie ein VW-Polo“, so Kuhrt. „Kein Wunder also, dass es sie manchmal aus der Kurve trägt."
Man geht heute davon aus, dass bis zu drei Prozent der Bevölkerung von der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) betroffen sind. Oft beginnen die Probleme nach dem Schulabschluss, mit Beginn der Ausbildung oder des Studiums. Die BPS wird häufig begleitet von weiteren Erkrankungen wie Schlafstörungen, Depressionen oder Essstörungen. Mehr als jeder zweite denkt im Laufe der Erkrankung daran, sich das Leben zu nehmen. Ohne rechtzeitige Therapie sterben fünf bis zehn Prozent der Betroffenen durch Suizid.
Frühkindliche Traumata können die Entstehung von Borderline begünstigen
Die Entstehung von BPS wird auf verschiedene Faktoren zurückgeführt. „Es gibt zum einen eine gewisse neurobiologische Veranlagung“, so Kuhrt. „Aber auch Umweltfaktoren und Traumata in der frühen Kindheit können Borderline auslösen.“ Als Beispiele nannte sie Gewalt, sexuellen Missbrauch, emotionale Vernachlässigung. Manche Betroffene haben ihre Eltern als Kind zugleich als Beschützer und Täter erlebt. Solche zutiefst widersprüchlichen Gefühle gegenüber der engsten Bezugsperson, das ständige gleichzeitige Aktivieren des Bindungs- und des Kampfsystems können die kindliche Psyche überfordern und die Entstehung einer Borderline-Erkrankung begünstigen.
Wenn BPS behandelt wird, sind die Prognosen vergleichsweise gut, insbesondere bei borderlinespezifischen Therapien: Etwa jeder zweite Patient kann die Erkrankung überwinden, zwei von drei Betroffenen profitieren deutlich. Bewährt hat sich zum Beispiel die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), eine Form der Verhaltenstherapie.
Carola Groß hat es besonders geholfen, durch die Reflektion und Spiegelung ihrer Therapeutin einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden. „Traurig“ oder „wütend“ – das waren für sie zuvor nur Worte. Ihr Verstand kannte zwar die Wortbedeutungen, aber emotional nachempfinden konnte sie sie nicht. Ihre Therapeutin erklärte ihr die Emotionen nicht, sie zeigte und benannte sie: Wenn die Therapeutin zum Beispiel Mitgefühl empfand, ließ sie diesem Gefühl Raum und sagte gleichzeitig, dass sie gerade mitfühle. „Darauf konnte ich mich einlassen, es nachfühlen und verstehen: Ach so, das ist also Mitgefühl. So fühlt sich das an“, so Groß. Schritt für Schritt lernte sie so, die eigenen Emotionen einzuordnen. Heute kann Carola Groß gegensteuern, wenn destruktive Gefühle und Gedanken sie zu überfluten drohen.
Neue Wege der Verständigung
Eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene wie Carola Groß, aber auch für Angehörige und Fachleute ist die Borderline Informations- und Kontaktstelle Stuttgart (BIKS). „Wir verfolgen einen trialogischen Ansatz und gehen damit neue Wege der Verständigung“, sagte die Psychologin Magdalena Werner von BIKS. Die Kontaktstelle ist ein Projekt der eva-Tochter Rudolf-Sophien-Stift und wird durch Aktion Mensch und die Heidehofstiftung gefördert. „Die Nachfrage ist sehr groß, besonders von Angehörigen“, so Werner.
BIKS informiert nicht nur über Borderline. Sie bietet auch Fortbildungen und Informationsveranstaltungen an, bei denen sich die drei Interessengruppen kennenlernen und austauschen können. Trialogisch bedeutet dabei: Alle Beteiligten begegnen sich auf Augenhöhe: Die Rollen der Betroffenen, Angehörigen und Fachleute sind gleichberechtigt. „Hier steht also nicht der Therapeut in der Hierarchie oben und sagt dem Patienten, was er tun soll“, so Werner. Vielmehr schildern alle Beteiligten ihre Erfahrungen und vermeiden es, die der anderen zu bewerten. Ein zentraler Grundsatz im Trialog lautet: Die Wahrheit ist subjektiv. Wenn sich alle Beteiligten darauf einlassen, können auch alle vom Trialog profitieren.
"Bitte, laufen Sie nicht weg!"
In der anschließenden Diskussion schilderte eine Sozialarbeiterin ihren Konflikt mit einer Klientin, die an Borderline leidet. „Für sie bin ich gerade der Buhmann und an allem Schuld. Sie will mich nicht mehr sehen. Soll ich sie tatsächlich in Ruhe lassen oder es immer wieder probieren?“ Für Simone Kuhrt gibt es auf diese Frage keine einfache, richtige Antwort. „Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen“, so die Fachfrau. „Es kommt sehr darauf an, in welcher Verfassung Ihre Klientin gerade ist.“ Auch andere Zuhörer stellten konkrete Fragen danach, wie man reagieren soll, etwa wenn das Gegenüber einen Wutanfall bekommt. „In dieser Situation ist es fast nicht möglich, etwas zu tun oder zu sagen“, berichtete Carola Groß aus ihrer eigenen Erfahrung. „Klar ist aber: Sätze wie ‚Jetzt wirst du wieder wütend‘ machen alles nur noch schlimmer.“ Wichtig sei es, die Situation auszuhalten, ohne auf die Wut zu reagieren. „Aber bitte laufen Sie nicht weg!“, appellierte Groß. „Das ist das schlimmste, was Sie tun können.“