Sie haben selbst psychische Krisen erlebt und helfen mit ihrem Erfahrungsschatz nun anderen - Erster baden-württembergischer Fachtag wirbt bei potenziellen Arbeitgebern für die Anstellung von Genesungsbegleitern
Kornelia Birkemeyer wird den Moment nie vergessen, als sie nach ihrer ersten schweren psychischen Krise in einer Klinik aufwachte - genau dort, wo sie Jahre zuvor als Gesundheits- und Krankenpflegerin gearbeitet hatte. Der Raum, in dem sie lag, kam ihr bekannt vor. Es war das Isolierzimmer, in dem sie früher selbst psychisch kranke Menschen untergebracht hatte. „Da wusste ich sofort, was los war“, erzählt sie.
In den nächsten Jahren erlebte sie drei weitere Krisen, beantragte eine Erwerbsminderungsrente und setzte sich intensiv mit ihrer Krankheit auseinander. Dabei erfuhr sie von der EX-IN-Ausbildung, in der psychiatrie- und krisenerfahrene Menschen zu Genesungsbegleitern ausgebildet werden. EX-IN steht für die Einbeziehung von Erfahrenen (englisch: Experienced Involvement) bei Hilfsangeboten für psychisch kranke Menschen. Die ausgebildeten Genesungsbegleiter arbeiten in psychiatrischen Angeboten wie Krankenhäusern, Betreutem Wohnen und Beratungsstellen mit. Kornelia Birkemeyer war dabei, als 2010 die erste Gruppe ihre einjährige Ausbildung in Stuttgart begann. Eine neue berufliche Perspektive eröffnete sich für sie: „Mich hat ermutigt, dass mein Erfahrungswissen gefragt ist. Meine Defizite wurden zum Werkzeug sozialer Arbeit."
Laut Jörg Utschakowski, Vorstand des Vereins EX-IN Deutschland, «können Genesungsbegleiter in allen Bereichen der Psychiatrie die Qualität verbessern». Ihre Erfahrungen schafften einen Zugang zu Menschen in ähnlichen Situationen, der von Fachkräften oft nicht hergestellt werden könnte. Schon alleine dadurch, dass die Genesungsbegleiter in der Lage sind, als Berater, Begleiter oder Fürsprecher zu arbeiten, vermittelten sie Menschen in psychischen Krisen das Gefühl, „dass man es schaffen kann, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt“, sagt Utschakowski, der am Freitag der Referent beim ersten baden-württembergischen Fachtag für Genesungsbegleiter in Stuttgart war. Vor zwölf Jahren wurde in einem europäischen Projekt die EX-IN-Ausbildung entwickelt. Mittlerweile wird sie an mehr als 30 Standorten in Deutschland, Österreich, Schweiz sowie Italien, Polen und Bulgarien angeboten, an der bisher nach eigenen Angaben rund 1.000 Menschen teilgenommen haben. Rund 400 bis 600 Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung arbeiten deutschlandweit bereits als ausgebildete Genesungsbegleiter.
Seit 2012 ist die 57-jährige Birkemeyer im Gemeindepsychiatrischen Zentrum (GPZ) der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) angestellt. Zurzeit begleitet sie dort eine Frau im ambulanten betreuten Wohnen. „Ich bin ein Stückweit Vorbild für sie, weil es mir auch so ging wie ihr und ich damals auch dachte, es geht nicht weiter“. Birkemeyer unterstützt ihre Klientin dabei, ihren Alltag wieder selbst in die Hand zu nehmen. Seit einiger Zeit traut sich ihre Klientin wieder selbst zu, Arzttermine am Telefon auszumachen oder ihre Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, was die Genesungsbegleiterin als einen ersten großen Erfolg einstuft. Nicht immer sind die Erfolge allerdings so deutlich sichtbar. Bei einem Paar, das bereits 40 Jahre chronisch psychisch krank war, gelang es Birkemeyer, die beiden dazu zu bringen, ihre Wohnung regelmäßig zu lüften und mehr auf ihre Körperpflege zu achten. „Hier war es wichtig, dass ich einfach für sie da war.“
Birkemeyer ist Mitorganisatorin des ersten baden-württembergischen Fachtags für Genesungsbegleiter. Er soll dazu beitragen, dass potenzielle Arbeitgeber gewonnen werden, die bereit sind, die rund 75 ausgebildeten Genesungsbegleiter aus dem Südwesten einzustellen. „Wir sind keine Konkurrenten zu Psychologen, Ärzten oder Sozialarbeitern, sondern bieten mit unserem Erfahrungswissen eine neue und andere Form der Unterstützung von Menschen in psychischen Krisen.“ Dieses Jahr feiert Birkemeyer ihr ganz persönliches Jubiläum: Bereits seit zehn Jahren lebt sie krisenfrei. Sie ist überzeugt: „Jeder hat das Potenzial in sich, von einer psychischen Erkrankung wieder zu genesen.“
Von Judith Kubitscheck (mit freundlicher Genehmigung des epd)